Todesschweigen

Claire Askew
 
Kriminalroman
Erscheinungstermin: 19. November 2018
528 Seiten, 12,5 x 18,7 cm
 
 
Todesschweigen
 
In Edinburgh ist Detective Helen Birch auf dem Weg zu ihrer neuen Dienststelle, als sie zu einem Einsatz gerufen wird, der sie zutiefst erschüttert: ein Amoklauf am Three Rivers College. Der junge Ryan Summers hat dreizehn Studentinnen erschossen, dann die Waffe gegen sich selbst gerichtet. Was bleibt, ist die quälende Frage nach dem Warum. Während sich die Medien mit Spekulationen überschlagen, führen ihre Ermittlungen Helen Birch zu Ryans Mutter Moira sowie zu den verzweifelten Angehörigen der Opfer. Doch beide Seiten verbergen Geheimnisse, und die Wahrheit scheint Helen immer mehr zu entgleiten …
 
 
 
Die Story ist wirklich gut wen man es den so nennen darf bei diesem Thema den leider sind solche Taten ja schon duzende Male Passiert.
 
Und auch wir Fragen uns dann immer wie kann es soweit kommen was geht dem Täter im Kopf vor und auch die Frage  stellt man sich hätte man das nicht verhindern können.
 
Dieses Buch greift eben genau das Thema auf.
 
Die Story ist hauptsächlich aus der Sicht von drei Personen geschrieben einmal aus der Sicht von Moira der Mutter von Ryan der Ermittlerin Helen Birch und der Mutter des ersten Opfers Ishbel Hodgekiss.
 
Zwischenzeitlich gibt es noch Ausschnitte aus den Zeitungen oder den Social Medien.
 
Am Anfang des Buches lernt man erstmal die Charakter kennen und es geht dann zum Tag des Amoklaufes wie jeder den Tag erlebt hat.
 
Wärend des Lesens erlebt man selber ein Gefühlscaos den man ist Wütend aber auch mitfühlend aber entwickelt auch Hass.
 
Auch wird einem Klar wir die Angehörigen durch die Medien sprich Journalisten gequält werden und aufeinmal die Angehörigen als Täter da stehen.
 
Es ist ein wirklich Spannendes Buch mit vielen Einblicken der verschiedenen Personen,so bekommt man einen Einblick wie sich das Leben ändert von den Angehörigen der Opfer aber auch wie sich das Leben ändert von den Angehörigen des Täters.
 
Ich möchte nun nicht allzuviel Verraten den es ist wirklich ein Spannendes Buch mit vielen Einblicken die wir so sonst nicht sehen würden.
 
Aber am Ende besteht die Frage dann immer noch WARUM.
 
Ich denke die Frage auf das Warum kann man einfach nicht beantworten.
 
Selbst wen der Täter überleben würde und sein Warum erzählt ist es für uns nicht die Antwort die wie hören wollen den eigentlich gibt es keinen Grund für so eine Tat.
 
Trotz des heftigen Themas muss ich sagen ein Klasse Buch toll geschrieben mit vielen Einblicken in die Welt eines Amoklaufes.
 
 
Leseprobe Extra Lang
 
 
Der Tag davor
 
 
13. Mai, 12:30 Uhr
 
Das Gesicht in die Sonne gestreckt wie eine Katze, saß
Moira Summers auf dem Oberdeck des Dreiundzwanziger-Busses – es war der erste richtig warme Tag im Jahr. Sie
spürte, wie der Bus ruckelte, als er sich den Mound hinaufquälte. Den Blick aus dem Dreiundzwanziger hatte sie
immer schon besonders gemocht: rechts das Castle,
schwarz und aus Stein gehauen, wobei es schien, als würde
es aus den ausschlagenden Bäumen in den Princes Street
Gardens emporwachsen. Links die New Town mit ihrem
klug angelegten Straßennetz. Im Sonnenschein sahen das
Kaufhaus Jenners und das Balmoral Hotel aus wie vergoldete Pralinenschachteln, und das Scott Monument wirkte
wie aus einem Modellbaukasten zusammengesetzt. Alles
unwirklich.
Widerwillig drückte Moira die Klingel, erhob sich von
ihrem Sitz, ging den Mittelgang entlang, kletterte im
schaukelnden Bus die Treppenstufen hinunter und stieg
an der National Library of Scotland aus. Die doppelflügelige Eingangstür des Bibliotheksgebäudes wurde von
einer Gruppe Schulkinder belagert. Moira war angespannt. Sie war hergekommen, um in der Bibliothek in
Ruhe für ihr Open-University-Examen zu lernen. Doch
schon bei dem Gedanken, an einem so schönen Tag im
dunklen, bedrückenden Lesesaal zu sitzen, machte sich 
ein düsteres Gefühl in ihr breit. Und wenn auch noch eine
ganze Schulklasse im Lesesaal herumlief, würde sie so gut
wie nichts schaffen.
»Stellt euch zu zweit auf!« Die junge blonde Lehrerin
stand oben an der Eingangstreppe. »Zu zweit, zu zweit!«,
rief sie den Teenagern zu, die sie nicht beachteten. Die
Schülerinnen und Schüler waren um die dreizehn Jahre
alt; allerdings konnte Moira in letzter Zeit das Alter von
Kindern immer schlechter schätzen. Sie hielt sie stets für
jünger – ihr eigener Sohn, Ryan, war zwanzig, und obwohl
er wie ein Mann aussah, war er in ihren Augen zehn.
Höchstens. War die Zeit so schnell vergangen?
»Zu zweit!«, rief die Lehrerin wieder. Auch sie sah jung
aus. Moira dachte an ihren Ehemann, Jackie: Er war Lehrer gewesen, als sie sich zum ersten Mal begegneten. Jahrzehntelang hatte er Kinder in diesem Alter in Sport unterrichtet, und sie malte sich aus, dass er dabei ähnlich
geklungen hatte wie die Lehrerin. Sie versuchte, ihn sich
vorzustellen: den jungen Mann, der er gewesen war, als sie
sich kennenlernten – aber vergebens. Es ist noch nicht so
lange her, dachte sie. Ich will ihn noch nicht verlieren.
Moira blinzelte die aufsteigenden Tränen weg, und da
wurde ihr plötzlich bewusst, dass die junge blonde Lehrerin über sie redete. Sie zeigte – einen schweren türkisfarbenen Ring an einem Finger ihrer Hand – die Treppe
hinunter auf Moira. »Kinder, die Frau will in die Bibliothek.«
Moira schrak zusammen. »O nein, nicht doch!«, rief
sie über die Köpfe der Kinder hinweg. Dann lachte sie –
denn es stimmte ja. Sie wollte nicht. Immerhin stellten die
Kids sich auf eine Seite der Treppe.
 
Moira zauderte. Der Ring an der Hand der Lehrerin sah
aus wie diese bunten, zuckersüßen Dauerlutscher, nach
denen Ryan im Eckladen gebettelt hatte, damals, als er
wirklich zehn gewesen war. Die Kinder vor ihr schienen
keine Ähnlichkeit mit ihm zu haben – auch nicht mit den
Kindern, mit denen er zur Schule gegangen war. Vor allem
die älteren wirkten heutzutage viel tougher, irgendwie
schlauer. Die Mädchen, die auf den Stufen vor ihr warteten, trugen alle die gleichen schwarzen, elastischen Leggings, die kurzen Röcke darüber saßen so eng, dass Moira
sehen konnte, welches Mädchen Spitzen- und welches
Feinrippunterwäsche trug. Sie kam sich gleichzeitig vor
wie eine Voyeurin und prinzipienfeste Oma.
»Wir gehen jetzt rein!«, rief die Lehrerin über die Köpfe
der durcheinanderredenden Kinder hinweg.
Die Jungen oben auf der Treppe aus falschem Marmor
schubsten einander und drängelten. Moira sah, dass einer
einen langsamen, kalkulierten Blick über die Schulter
warf und dann mit seinem ganzen Gewicht einen kleineren Jungen, der auf der Stufe darunter stand, anrempelte.
Der große Junge hielt sich am Geländer fest, damit er nicht
fiel – aber sein Opfer verlor die Balance und stürzte auf
die Steintreppe.
»Jason!« Die junge Lehrerin rief den Namen offenbar
nicht zum ersten Mal. Moira zuckte zusammen und betrachtete den Jungen, der jetzt, alle viere von sich gestreckt,
auf den Stufen lag. Noch so ein Jason, dachte sie. Die
Schlimmen heißen immer Jason, hatte Jackie oft gesagt.
Moira wandte sich von der Treppe und der Bibliothek
ab und ging rasch ein paar Schritte, bis sie das Gekicher
der Mädchen mit den engen Röcken hinter sich gelassen 
 
hatte. Sie dachte an die Mutter des Jungen – daran, mit
welcher Laune ihr Sohn später vermutlich nach Hause
kommen würde: missmutig, stumm die Treppe hinaufstapfend, ohne sie anzusehen. Hatte auch diese Mutter
aufgegeben, danach zu fragen, was mit ihm los war? Nahm
auch sie mittlerweile an, dass dies der Mann war, zu dem
ihr Sohn heranwachsen würde? Und vermutete auch sie,
in Momenten schamloser Ehrlichkeit, dass ihr eigenes
Verhalten daran schuld sein könnte?
Wieder blinzelte sich Moira das salzige Brennen aus den
Augen: Hör auf damit. Immerhin war sie drauf und dran,
das Lernen zu schwänzen, und es war so ein schöner Tag.
Genieß ihn doch.
Auf der anderen Straßenseite sah sie einen SandwichShop mit orangefarbener Fassade, kaum mehr als ein
Raum, in dem zwei, drei Personen stehen konnten. Moira
ging hinein und bestellte ein Sandwich mit Bacon, Salat,
Tomaten und Mayo. Wie altmodisch, dachte sie, während
sie in der Auslage die Sandwiches mit Quinoa, Hummus
und Granatapfelkernen betrachtete. Den kleinen Imbiss
in einer braunen Papiertüte, schlenderte sie dann hinauf
zum Greyfriars Kirkyard.
Der Kirchhof war ein beliebter Picknickplatz: Büroangestellte in schicken Klamotten saßen allein oder zu zweit
auf dem Rasen, einige hatten ihre Schuhe ausgezogen. Ein
Grüppchen schoss Fotos vom Grab von Greyfriars Bobby
und fügte Stöckchen zu dem bereits bestehenden kleinen
Haufen von Stöckchen hinzu: Geschenke für das Hundegespenst. Moira wandte sich von der Kirche ab und ging
auf dem gekiesten Weg weiter. Ihr Atem stockte. Vor ihr
leuchtete ein schlanker, kräftiger Goldregen: Die strah-
 
lend gelben Blüten hingen so dicht, dass sich die Zweige
anmutig hinabbogen. Unfassbar, dass niemand hier war,
um dies zu fotografieren. Sie holte ihr Handy hervor und
machte selbst ein paar Bilder. Sie wurden dem wirklichen
Anblick des Baums nicht gerecht.
Mit ihrem Lunch in der Hand bückte sich Moira, setzte
sich unter die Goldregenzweige ins Gras und lehnte sich
an den Stamm. Kein sonderlich bequemer Platz, aber im
Sonnenlicht, das durch die kanariengelben Blüten fiel,
fühlte sie sich geschützt und geborgen. Als ob sie in ihrer
eigenen Minikathedrale säße oder – Moira lächelte – in
einer dieser Schneekugeln aus Plastik. Sie aß ihr Sandwich
und blickte über den Kirchhof. Viele der Grabsteine
waren verfallen, nachdem sie jahrhundertelang dem berühmten Edinburgher Horizontalregen getrotzt hatten.
Einer war mit der Vorderseite auf das Grab gestürzt. Doch
an weniger dem Wetter ausgesetzten Stellen waren immer
noch ein paar filigran gemeißelte Wasserspeier, geflügelte
und grinsende Totenschädel und Stundengläser zu
sehen … und hin und wieder sogar ein Engel. Die reicheren Edinburgher Familien besaßen Mausoleen – halb im
Gras versunkene gusseiserne Gitter schützten die unterirdischen Kammern, in die seit Jahren kein Sterblicher
mehr einen Fuß gesetzt hatte.
Lautes Gelächter schallte über den Kirchhof. Moira
hob den Kopf. Ein Junge, ungefähr in Ryans Alter, saß auf
dem Dach eines der Mausoleen und ließ die Beine über
dessen Eingang baumeln. Ihm gegenüber balancierte ein
Mädchen mit hellen Haaren, den Rücken Moira zugekehrt, auf einem Grabstein. Sie hatte sich dem Jungen
entgegengestreckt, um ihm etwas zu reichen, und es war 
 
auf den Gehweg gefallen. Die Stimmen der beiden hallten
über den Friedhof: das Lachen zweier Menschen, die
ziemlich betrunken waren, vielleicht auch high von irgendwelchen Drogen. Moira beobachtete, wie der Junge langsam von seinem Platz herunterkletterte; den vorsichtigen
Schritten auf dem Kies nach zu urteilen, trug er keine
Schuhe. Das Etwas, das er aufhob, war weiß, und er hielt
es in beiden Händen wie ein Kätzchen. Eine Fish-andChips-Tüte. Er ging über den Weg, reichte die Tüte seiner
Freundin und lehnte offenbar gleichzeitig deren Angebot
zu teilen ab. Die beiden strahlten: erhellt vom Sonnenschein, umrahmt von den wehenden gelben Blütenzweigen und jung, so unfassbar jung. Der Junge blieb neben
dem Grabstein stehen und massierte dem Mädchen die
Füße, während sie aß. Selbst aus dieser Entfernung erkannte Moira, dass der Junge, abgesehen von den nackten
Füßen, teuer und schick gekleidet war. Die Sonne spiegelte sich in seiner Brille. Die Flipflops, die das Mädchen
abgestreift hatte, lagen im Gras nahe der Stelle, wo ihre
Mahlzeit heruntergefallen war. Im Stillen dankte Moira
ihren ruhigen Händen, die ihr Sandwich in der sauberen
braunen Tüte festhielten.
Sie verließ den Kirchhof wie benommen; außerhalb
des Kokons aus Goldregen wirkte alles zu grell. Sie wandte
sich nach rechts und kam an Läden vorbei, deren Schaufenster für den Sommer dekoriert waren: Sonnenhüte,
Schals aus Gaze, Zehensandalen mit bunten Strasssteinen.
Ich gehe zur Arbeit, dachte Moira. Aber es war fast ein
Jahr her, dass sie vorzeitig in Rente gegangen war – zwei
Jahre, seit Jackie gestorben war und seine Lebensversicherung ihr das erlaubt hatte –, und sehr viel länger, seit sie 
 
hier gearbeitet hatte. Als sie um die Ecke bog, erinnerte am
Royal Infirmary natürlich nichts mehr an das Gebäude, in
dem sie als junge Krankenschwester fast täglich gewesen
war. Hinter den ursprünglichen Krankenhausgebäuden
aus Sandstein hatten Stadtentwickler und Architekten
Häuserblocks errichtet, die aussahen, als wären sie komplett aus Glas. In den unteren Stockwerken hingen sieben
Meter lange Jalousien vor den Fenstern, um vor neugierigen Blicken zu schützen. Die obersten Etagen dagegen
schienen überhaupt keine Vorhänge oder Jalousien zu
haben: Die Wohnungen glichen durchsichtigen Kisten –
als wohnte man unter freiem Himmel. Moira seufzte. Sie
war froh, dass ihr ehemaliger Arbeitsplatz sinnvoll genutzt wurde, jetzt, da das inzwischen hochmoderne Krankenhaus an den Stadtrand, nach Little France, umgezogen
war. Sie wünschte sich nur, dass die Wohnungen etwas
erschwinglicher wären: Vor einiger Zeit hatte eine kurze
Internetrecherche ergeben, dass selbst ein Einzimmerapartment in den Neubauten schon eine Viertelmillion
kostete.
Moira überquerte die Straße und trat in den fleckigen
Schatten der Platanen am Rande der Meadows. Hier gab
es kein Tor, dafür aber ein Sandsteinmonument, das den
Eingang markierte: haushoch, mit einem steinernen Einhorn obendrauf. Moira nickte dem Einhorn zu, so wie sie
es auf ihrem Weg vom und zum Krankenhaus immer
getan hatte. Wieder dachte sie an Jackie – kleine Erinnerungen an ihn schienen ihr heute überall zu begegnen –,
wie er im Schatten des Denkmals stand und wartete, dass
sie von der Arbeit kam, damit sie ins Kino oder durch den
Park zu der Eisdiele gehen konnten. Sie hatte seine hohe, 
 
drahtige Gestalt immer schon von Weitem erkannt, selbst
am Abend, wenn ihm das orangefarbene Licht der Straßenlaternen schräg über die Schulter fiel und sein Gesicht
im Halbdunkel lag. Und genau so sah sie ihn jetzt: halb
verborgen hinter dem gefallenen Vorhang der Zeit. Sie war
so achtsam gewesen – jede einzelne Erinnerung hatte sie
zu bewahren versucht.
Ein wenig innerlich aufgewühlt ging sie den Hügel hinab
und an der Ostseite des ehemaligen Krankenhausgeländes
entlang durch den Park. Sie betrat einen kleinen, mit
Steinplatten gepflasterten Innenhof mit Setzlingen in quadratischen Beeten und winklig aufgestellten, dunklen
Marmorbänken. Moira erkannte den Ort wieder – und
auch nicht. Viele der sogenannten modernen Gebäude,
aus denen das Krankenhaus bestanden hatte, waren abgerissen oder entkernt worden: Nur die denkmalgeschützten Sandsteinfassaden hatte man stehen lassen. Sie setzte
sich auf eine der harten Bänke und legte den Kopf in den
Nacken – als wollte sie den aufziehenden Erinnerungen
lauschen. Sie dachte an die Nachtschichten, die sie im
Sommer gemacht hatte, wie sie mal wieder die Treppe
hochlief, weil der Aufzug voll, kaputt oder einfach nur zu
langsam war – und kurz auf dem Treppenabsatz stehen
blieb. An den langen Sommerabenden fiel das letzte Tageslicht in den Park, und der Staub wirbelte die Treppe
hinauf und herunter. Sie hatte die kleinen, stillen Augenblicke inmitten ihrer chaotischen Umgebung immer über
die Maßen genossen. Inzwischen fragte sie sich, ob sie die
Fähigkeit verloren hatte, so lebhaft wie damals als junge
Frau zu empfinden: dass es vielleicht am Alter lag, wenn
sie sich nicht mehr wirklich an Jackie erinnerte, nicht 
 
mehr für ihren Open-University-Kurs lernte oder Ryan
danach fragte, weswegen er in letzter Zeit so launisch war.
Selbst jetzt, als sie auf einer Bank in diesem hübschen
Innenhof saß, an einem schönen Tag im Frühling, an dem
es absolut nichts gab, was zu erledigen gewesen wäre, fühlte
Moira sich nicht so ruhig und erfüllt wie damals, als sie
während ihrer Schicht im Treppenhaus eine Pause gemacht hatte.
Irgendwo war ein Krankenwagen zu hören. Kurz dachte
sie, dass das Geräusch aus ihrer Erinnerung stammte;
Krankenwagensirenen hatten hier schließlich einen großen Teil der Hintergrundgeräusche ausgemacht. Vielleicht war es eine Art Geisterambulanz, ein Nachklang
eines der Krankenwagen, die früher ständig hier, vor dem
alten Gebäude, gehalten hatten. Aber nein – Moiras Verstand setzte wieder ein. Das Geräusch kam von irgendwo
hinter ihr, vermutlich war der Rettungswagen an der
Tollcross-Kreuzung aufgehalten worden und kam jetzt
näher.
Die Sirene wurde lauter, bis es schien, als wäre das Fahrzeug fast direkt über ihr. Beinahe rechnete Moira damit,
dass es mit quietschenden Reifen um die Ecke biegen und
in den kleinen, geschützten Innenhof fahren würde. Jetzt
hörte sie außer der Sirene auch den Motor – der Wagen
konnte nur ein paar Meter entfernt sein. Als Krankenschwester hatte Moira erfahren, dass nichts die Aufmerksamkeit von Passanten so sehr weckte wie der Klang einer
Sirene – dass es im Menschen etwas gab, das von Schreien,
Blutspritzern und Tragödien angezogen wurde. Die Leute
wollten sehen, wer hinten aus einem Krankenwagen herausgezogen wurde. Sie wollten, dass das Unglück jemand 
 
anderem geschah, denn wenn es jemand anderem geschah,
passierte es nicht ihnen. Aber noch während ihr dieser
Gedanke kam, stand Moira unvermittelt auf und ging
Richtung Geräuschquelle.
Als sie um die Ecke bog, war die Sirene verstummt, und
die Hecktür des Krankenwagens wurde gerade aufgerissen. Drei junge Männer in Warnwesten und mit Schutzhelmen schrien den Sanitätern etwas zu, ermahnten sie,
sich zu beeilen, gestikulierten mit weit ausgebreiteten
Armen. Die sehen alle so jung aus, dachte Moira. Sie blieb
an der Ecke des Gebäudes stehen, im Vertrauen darauf,
dass ihr Status als Frau in den mittleren Jahren verhindern
würde, dass man sie entdeckte. Die Bauarbeiter trugen
Werkzeuggürtel um die Taille, und während sie die Sanitäter mit der Rolltrage zur Baustelle dirigierten, klirrten
ihre D-Ringe und Werkzeuge wie die Schlüssel einer
Schlossherrin.
Ich sollte gehen, dachte Moira. Mehrere Passanten
waren stehen geblieben, um zu gaffen, was irgendwie geschmacklos war, wie sie fand. Aber auch sie rührte sich
nicht vom Fleck. Sie blickte hoch, vorbei am Bauzaun, der
von den sichtbaren Teilen der Baustelle überragt wurde.
Eine riesige Pfahlramme, hellgelb und merkwürdig galgenähnlich mit ihren Stützstreben. Ein gewaltiger Kranarm
schwang durch die Luft, nur partiell sichtbar zwischen
den Gebäuden. Teile des gitterähnlichen Hauptmastes
waren zu sehen, mit der Leiter darin, die jetzt ein Mann
langsam hinabstieg. Unübersehbar waren alle Arbeiten
eingestellt worden. Der Kranführer wirkte winzig in der
luftigen Höhe. Moira verspürte einen Kitzel der Angst: Es
gab so viele Möglichkeiten, sich an einem Ort wie diesem 
 
schwer zu verletzen. Wollte sie wirklich sehen, wer in den
Rettungswagen gebracht wurde?
Es war zu spät. Die Sanitäter kehrten in ihre Sichtweite
zurück, zogen ratternd ihren Patienten auf der Trage hinter sich her. Moira hielt den Atem an. Auf ihr lag ein
dunkelhaariger junger Mann – die gleiche Warnweste, der
gleiche Werkzeuggürtel –, sein Oberkörper rechts oben
durchbohrt von einer eisenfarbenen Stange.
»Ryan«, hörte sie sich sagen. Es war nicht so, dass der
junge Mann Ähnlichkeit mit ihrem Sohn hatte, aber er
war ungefähr im gleichen Alter und von ähnlicher Statur.
Eine Sekunde lang überlagerten in ihrer Fantasie die Züge
ihres Sohnes das Gesicht dieses Fremden, der die Zähne
zusammenbiss. Obwohl ihm ein Anschlusseisen in der
Schulter steckte, war er entschlossen, sich nichts anmerken zu lassen. Tapfer zu sein.
»Kennen Sie den jungen Mann?« Noch eine Schaulustige – eine junge Frau mit blonden Haaren, jung genug, um
eine Schwesternschülerin zu sein – erschien neben Moira.
»Nein«, sagte Moira, unfähig, den Blick von der Rolltrage abzuwenden, »nein, ich dachte nur …«
Aber die junge Frau war bereits zum Rettungswagen
gelaufen und winkte, um die Sanitäter auf sich aufmerksam zu machen. »Hey! Hier ist eine Frau, die den Mann
kennt!«
Die beiden Männer schoben die Trage in den Wagen.
Der hintere Mann, der sich noch nicht im Inneren befand,
wandte sich um. Moira zuckte zusammen und eilte der
jungen Frau hinterher, sodass sie beide gleichzeitig am Rettungswagen ankamen.
»Hören Sie, es tut mir leid.«
 
»Kennen Sie den Mann?«
Der Sanitäter wirkt erschöpft, aber das tun sie ja immer,
dachte sie. »Nein.« Moira brachte es nicht fertig, ihm in
die Augen zu sehen. Stattdessen beging sie den Fehler, ins
Wageninnere zu blicken, wo der junge Mann – jetzt vor
den Blicken der Arbeitskollegen geschützt – vor Schmerzen schnell und stoßweise atmete. »Sie irrt sich.« Moira
fixierte die junge Frau – vielleicht allzu streng, denn sie
wich hinter die offene Hecktür zurück, wo sie nicht mehr
zu sehen war. »Ich … bin Krankenschwester.« Moira
wurde rot. Als könnte diese Information die letzten dreißig Sekunden erklären.
Der Sanitäter hob den Blick himmelwärts. Moira wollte
sich erneut bei ihm entschuldigen – sich immer und immer
wieder entschuldigen  –, aber sie fand einfach nicht die
richtigen Worte.
»Okay, aber ich glaube, wir haben das hier im Griff.
Bitte machen Sie den Weg frei. Sofort.« Er stieg in den
Rettungswagen und knallte die Tür zu. Wieder heulte die
Sirene auf, und Moira sprang zurück. Geschickt wendete
der Fahrer, dann fuhr er in hohem Tempo davon, braunen
Baustellenstaub aufwirbelnd.
Moira lauschte der Sirene, während sich das Geheul
durch die Innenstadt bewegte. Um das niederschmetternde Gefühl der Scham abzuschütteln, versuchte sie sich
die Route vorzustellen, die der Krankenwagen nahm, um
den jungen Mann nach Little France zu transportieren. Sie
horchte, während er um das andere Ende der Quartermile
bog und dann die lange Strecke bis zum Lauriston Place
fuhr, wo er noch mehr Geschwindigkeit aufnehmen
konnte. Schließlich hörte sie nur noch, wie das Sirenen-
geheul allmählich leiser wurde, bis es gänzlich vom Verkehrslärm verschluckt wurde.
Sie blickte auf und sah, dass die drei Bauarbeiter zurückgekehrt waren und das Gleiche taten wie sie – sie standen reglos und still da, mit gereckten Köpfen, und lauschten. Moira stellte sich vor, wie sie wohl auf sie wirkte: mit
ihrem mausgrauen Wash-and-go-Haar und den ausgeblichenen Jeans, die sie bereits getragen hatte, als sie mit Ryan
schwanger war. Für die sehe ich bestimmt aus wie jemandes
Mum. Jemandes Mum, jemandes Ehefrau. Nichts, was sie
identifizierte, bis auf den Ehering, den ihr verstorbener
Ehemann ihr geschenkt hatte. Moira verfluchte sich, weil
sie in jenem entscheidenden Moment den Namen ihres
Sohnes ausgesprochen und damit die Aufmerksamkeit
der jungen Frau und dann der Sanitäter auf sich gelenkt
hatte – weg von dem verletzten jungen Mann. Sie stellte
sich dessen Mutter vor, die in diesem Moment vermutlich
irgendwo im Büro saß – wie sie an einem Laptop arbeitete
oder ein Meeting leitete. Diese Frau ahnte noch nicht, dass
sie gleich einen schrecklichen Anruf bekommen würde.
Dann erinnerte sich Moira an den Jungen von vorhin –
den Teenager, der die harten Steinstufen runtergeschubst
worden war. Sie richtete sich auf, schüttelte den Kopf, um
den Rest ihrer Scham loszuwerden. Dann drehte sie sich
um und ging denselben Weg zurück, den sie gekommen
war, jetzt mit einem Ziel für den restlichen Tag: Ob es
ihrem Sohn gefiel oder nicht, es war Zeit. Sie hatte es allzu
lange aufgeschoben, aber damit war jetzt Schluss. Sie
würde nach Hause gehen und mit ihm reden.
 
13. Mai, 16:55 Uhr
 
Als Helen Birch endlich am Gayfield Square eintraf, stand
Banjo-Robin vor der Wache, als hätte er auf sie gewartet.
Sie hatte gehofft, im Schatten der Bäume auf dem Platz
vielleicht wie eine anonyme Fußgängerin zu wirken, doch
im Näherkommen wurde ihr klar, dass er sie abgepasst
hatte. Sie atmete tief ein und machte sich auf das verbale
Sperrfeuer gefasst, das gleich einsetzen würde.
»Fang gar nicht erst an, Robin«, sagte sie, sobald sie in
Hörweite war. »Ich arbeite nicht mehr hier, okay?« Am
besten, sie ging gar nicht auf ihn ein.
»Seit wann denn das? Diesmal hast du mich echt gefickt.
Hast mich echt total gefickt.«
Banjo-Robin war die lokale Nervensäge. Er war Anfang
sechzig und hing mit etwa gleichaltrigen Folkmusikern ab,
die sich, dem offiziellen Sprachgebrauch zufolge, in einer
prekären Wohnsituation befanden. Diese Leute waren
nicht obdachlos im eigentlichen Sinne – Robin hatte eine
Freundin in jedem Postleitzahlbezirk und wohnte bei
jeder, die er in der Woche noch nicht geschlagen hatte –,
aber hatten keine feste Adresse. Wenn Robin ausnahmsweise mal nüchtern war, konnte er erstaunlich gut Banjo
spielen. Das Problem war nur, dass er sein Hutgeld gerne
durch den Verkauf verbotener Substanzen aufbesserte.
Diese waren in aller Regel von zweifelhafter Qualität und 
 
winziger Menge, sodass er es bislang hatte vermeiden
können, in den Knast zu kommen. Dafür war er ein regelmäßiger Besucher der Ausnüchterungszelle. Wenn ein
Anruf über einen etwa sechzig Jahre alten Mann reinkam,
der auf der Straße urinierte, verdächtig in der Nähe geparkter Autos herumlungerte oder in den frühen Morgenstunden irgendeiner Frau durch ein erleuchtetes Fenster vom Gehsteig aus Obszönitäten zurief, war es ziemlich
wahrscheinlich, dass der herbeigerufene Streifenwagen
von dem Einsatz mit Banjo-Robin auf dem Rücksitz zurückkehrte. Wenig überraschend, kannte dieser auf den
Wachen Gayfield Square und St. Leonards sämtliche Beamte mit Namen. Im Moment nuschelte er irgendwas vor
sich hin.
Birch trat auf ihn zu und hob eine Hand mit der Innenfläche nach vorn, als wollte sie den Verkehr anhalten. »Ich
meine es ernst«, sagte sie. »Erzähl das nicht mir, ich arbeite
nicht mehr hier. Wenn du mit jemandem reden willst,
musst du mit reinkommen.«
Verärgert sagte er: »Drinnen war ich schon. Die Mistkerle wollen nichts für mich tun.« Er begann, seine Taschen abzutasten. Mit zitternden Händen holte er von irgendwo einen Tabakbeutel und Zigarettenpapier hervor.
»Geh ich recht in der Annahme«, sagte Birch, während
Robin kleine Tabakkrümel zu einer dürren Zigarette
drehte, »dass meine Kollegen dich gebeten haben zu
gehen?«
»Nee.« Robin steckte seine dünne graue Zunge raus, um
die lange Kante des Zigarettenpapiers anzulecken. »Na ja,
ja, aber das ist doch nicht fair, oder? Ich meine, verdammt,
ist so ein Verhalten überhaupt professionell?«
 
Birch rollte mit den Augen. »Okay. Aber wenn man
sich da drin geweigert hat, dir zu helfen, und dich gebeten
hat zu gehen, kann ich auch nichts mehr für dich tun. Geh
jetzt nach Haus, Robin.«
»Sehen Sie, das ist ja das ganze Scheißproblem«, antwortete Robin. Er versuchte vergebens, seine Zigarette
anzuzünden: Das Feuerzeug funkte und funkte und funkte.
»Ich hab keine Bude. Bee hat mich rausgeschmissen, ohne
echten Grund, und mir dann euch Bullen auf den Hals
gehetzt.«
Birch schüttelte den Kopf. Vor Jahren hatte sie Bee,
seine Freundin in Tollcross, ein paarmal getroffen und war
bei Robins häuslichen Streitereien sogar dabei gewesen.
Bee hatte auf sie einen freundlichen, sanften Eindruck
gemacht. Sie hatte einen sympathischen NordwestküstenAkzent, hennagefärbte Haare und mehrere Katzen. Wieso
sie sich dann und wann mit diesem Kerl abgab, war Birch
ein Rätsel.
»Ich geh da jetzt rein«, sagte sie. »Und ich würde dir
raten, mir nicht zu folgen.«
Endlich funktionierte das Feuerzeug. Als sie an ihm
vorbeiging, brummte er irgendetwas Unverständliches.
»Viel Glück, Robin«, sagte sie. Komisch, dachte sie. Ich
glaube fast, er wird mir fehlen.
Der Eingangsbereich war trotz der Neonleuchten
schummrig. Die Polizeistation, ein niedriges, modernes
Gebäude, stand zwischen Reihen hoher, alter Wohnhäuser. Wegen der großen Bäume auf dem Vorplatz waren die
Räume dunkel. Das einzige natürliche Licht wurde von
den auf der Straße geparkten Polizeiautos in Signalfarben
reflektiert und fiel in hellen Rechtecken auf den Boden.
 
»Na, alles klar?«
Birch drehte sich um. »Hallo, Sergeant.«
Al Lonsdale kannte Birch länger als irgendjemand
sonst. Er war einer der Revierbeamten, stand im Moment
links von der Glastür des Eingangsbereichs und spähte
von der Seite durch sie hindurch – wie ein Kind, das Verstecken spielt.
»Behalten Sie Banjo im Auge?«, fragte Birch.
Al nickte. »Ich möchte sicher sein, dass er seiner Wege
geht, der Faulpelz.«
Birch lächelte. Al stammte aus Wakefield, aber obwohl
er schon seit Jahrzehnten nicht mehr in jener Stadt lebte,
hatte er den Akzent, den man dort sprach, noch nicht
abgelegt.
»Wir haben ihn gestern Abend in seiner gewohnten
Suite untergebracht«, fuhr Al fort. »Nur wegen des üblichen Blödsinns – er hatte wieder ganz schön getankt. Wir
sollten ihm Treuepunkte geben, so oft, wie er bei uns ist.«
Al verließ den Türbereich, und als er an Birch vorbeiging, sah er ihr ins Gesicht und drehte dabei den Kopf wie
ein neugieriger Vogel. »Geht’s Ihnen gut? Sie sehen ein
bisschen … durcheinander aus.«
Birch lächelte und wollte schon etwas darauf erwidern,
aber Al wartete nur selten eine Antwort ab.
»Natürlich«, sagte er, »sollte ich in Ihrem Beisein meinen Ton dementsprechend anpassen. Jetzt, wo Sie in höheren Kreisen verkehren, wäre die Anrede Ma’am wohl
die richtige.«
Birch lachte. Bei Al klang das Wort ein wenig wie das
Blöken eines Schafes. »Maa-am?«, ahmte sie ihn nach.
»Bitte tun Sie’s nicht.«
 
Al grinste breit. »Also gut, Detective Inspector. Ich
wollte mich nicht lustig machen.«
Er war im Begriff, hinter dem Empfangstresen zu verschwinden, aber Birch hielt ihn am Arm zurück. »Sie werden mir fehlen«, sagte sie. »So wie der alte Laden hier.«
Sie sahen einander an, während Birch immer noch seinen Ellbogen festhielt. Dann umarmte Al sie fest. Sie
schniefte.
»Ist ja gut.« Seine Stimme in ihrem Haar klang gedämpft. »Nicht weinen, Kleine.«
Hinter ihm erblickte Birch die Kartons, die man auf
ihren Wunsch hin heruntergetragen hatte.
»Das reicht jetzt.« Al löste sich von ihr. »Noch länger,
und ich könnte wegen sexueller Belästigung belangt werden. Außerdem bin ich alt genug, um Ihr Vater zu sein.«
Birch lächelte und versuchte gleichzeitig, nicht in Tränen auszubrechen. »Nicht gerade politisch korrekt von
Ihnen, Al.«
Er zuckte die Achseln. »Na ja, wissen Sie – diese ganzen
Gleichstellungsgesetze, die ändern sich derart oft, dass
wir Alten das gar nicht mehr mitkommen. Apropos – ich
ruf mal ein paar kräftige Jungs, die Ihnen beim Tragen
helfen.«
Birch grinste. »Geht schon. Mein Wagen steht nicht
weit weg.«
Al trat hinter den Tresen. »Nehmen Sie mit, was Sie
mitnehmen können. Im Präsidium, wo Sie arbeiten werden, weht ein anderer Wind. Da kümmert sich doch keiner um den andern.«
Birch schüttelte den Kopf. »Hey, Sergeant. Erstens: Das
heißt nicht mehr Präsidium – wir sind jetzt alle gleich, 
 
schon vergessen? Und zweitens: Es ist okay. Die Leute da
sind in Ordnung. Bislang waren sie sehr nett zu mir.«
Al nickte einmal kaum wahrnehmbar. »Aye, na ja, dann
hoffe ich, dass das so bleibt. Ich möchte nicht vorbeikommen müssen, um mit Ihrem Chief Inspector ein
Wörtchen zu reden.«
Einen Augenblick lang stellte sich Birch vor, wie Al ins
Büro von DCI McLeod stürmte, entschlossen, ihre Ehre
zu verteidigen. Sie lächelte, aber es war nur ein schwaches
Lächeln. Denn Al hatte recht. Ihr neuer Arbeitsplatz war
wirklich unpersönlich. Mist. Habe ich das Richtige getan?
Al hatte sich schon den Telefonhörer zwischen Ohr
und Schulter geklemmt. »Sie bleiben einfach hier stehen
und sehen dekorativ aus«, sagte er zu Birch. »Und ich lass
mal einen der hübschen jungen Constables runterkommen. Ist doch das Mindeste, was wir an Ihrem letzten Tag
für Sie tun können.«
Die Kartons waren voll mit Dingen, die aussortiert
werden mussten – seit Jahren hätten aussortiert werden
müssen. Birch hatte es immer vor sich hergeschoben und
die Kartons deshalb erst ganz zum Schluss gepackt. Die
Rücksitze ihres Wagens hatte sie nach vorn geklappt, um
hinten die Ladefläche zu vergrößern. Das letzte Band,
das sie mit der Wache am Gayfield Square verband, war
durchschnitten.
Al hatte einen Hausmeister aufgetrieben, der ihr beim
Tragen half. Als der bedauernswerte Kerl den Fehler gemacht hatte, im Eingangsbereich aufzutauchen, hatte Al
gerufen: »Das ist mein Mann!« Und hatte damit ganz richtiggelegen: Der Hausmeister besorgte einen alten Rollwagen, mit dem sich die Sache – auch wenn draußen auf 
 
dem Kopfsteinpflaster das Schieben etwas mühsam war –
schnell erledigen ließ.
»Haben Sie irgendwas von dem jungen Mann gehört?«,
fragte der Hausmeister, bevor er den nächsten Umzugskarton ins Auto wuchtete. »Von dem, der aufgespießt
wurde?«
Birch stutzte.
»Aufgespießt?«
»Ja. Ich hatte den Polizeifunk im Büro an. Es heißt, der
Junge habe auf einer Baustelle gearbeitet und sei drei
Meter tief gestürzt. Direkt auf ein Anschlusseisen, das
ihn durchbohrt hat.«
»Autsch«, sagte Birch. Und dann, nach einer Pause:
»Was ist das, ein Anschlusseisen?«
»Eine Stange, die ungefähr so weit aus dem Fundament
eines Gebäudes ragt.« Der Hausmeister zeigte die Länge
mit der Hand an. »Ist ein bisschen gedreht. Wie eine altmodische Zuckerstange. Aber Sie sind wohl zu jung, um
so was noch zu kennen.«
Birch war dafür zwar durchaus alt genug, hielt aber diesbezüglich den Mund. »Aha, so was also. Der arme Kerl …«
»Aye.« Der Hausmeister sah sie ein wenig misstrauisch
an. »Überrascht mich, dass Sie davon nichts über Funk
mitbekommen haben.«
»Ich war heute schwer erreichbar. Aber wahrscheinlich
ist jemand von der Wache dort gewesen.« Sie nickte in
Richtung Polizeistation. Ihr kam ein Gedanke. »Ist der
junge Mann denn tot?«
Wieder hob der Hausmeister einen Karton vom Rollwagen auf die Ladefläche des Autos. »Noch nicht.«
Jetzt, auf der Fahrt nach Hause, hatte Birch keine Mühe,
nicht allzu sehr über die Kartons nachzudenken – der aufgespießte junge Mann nahm in ihrer Vorstellung viel zu
großen Raum ein.
Hoffentlich landet der Fall nicht auf meinem Schreibtisch.
Wie ein Mantra kam der Satz immer wieder zurück. Klingt
nach Albtraum.
Sie fragte sich, wie der junge Mann den Unfall wohl
erlebt hatte. Eine schnelle Internetrecherche auf dem
Handy vor dem Losfahren hatte ergeben, dass er erst
zwanzig war. Im selben Alter wie mein Bruder, dachte sie,
was jedoch nicht ganz stimmte. In ihrer Vorstellung war
ihr Bruder Charlie ewig zwanzig. Tatsächlich würde er,
wenn er noch am Leben wäre, in diesem Jahr seinen vierunddreißigsten Geburtstag feiern. Birch stellte sich den
Mann von der Baustelle vor, auf dem Gerüst, hinter ihm
ging es in die Tiefe, während er an irgendetwas arbeitete
und seinen privaten, belanglosen Gedanken nachhing. In
ihrer Fantasie war er attraktiv, so wie alle zwanzigjährigen
Männer – auf diese schlaksige Art, die sie selber nicht
bemerken. Sie malte sich aus, dass er Charlies Gesicht
hatte. Und dann stellte sie sich vor, wie er stürzte. Rückwärts fiel, als wäre er gestoßen worden, mit weit aufgerissenen Augen, während seine Hände ins Nichts griffen.
Wie lange dauerte es, drei Meter tief zu fallen? Vermutlich eine halbe Sekunde, wenn überhaupt. Kaum lang
genug, um zu begreifen, was passierte. Ein Sturz, bei dem
man mit einer beeindruckenden Schramme oder zwei davonkommen konnte. Aber nicht diesmal. Ihr fiel ein, dass
sie gegenüber dem Hausmeister Autsch gesagt hatte. So
unpassend.
 
Auf dem Leith Walk herrschte dichter Verkehr. Birch
fuhr an den polnischen Läden und den Handyshops vorbei, an der Bio-Doughnut-Bäckerei und dem Lebensmittelgeschäft der Sikhs. An einer besonders lange auf Rot
stehenden Ampel bewunderte sie die in allen Regenbogenfarben schillernden Saris hinter dem Panzerglasfenster
einer kleinen Boutique. Sie versuchte, die Gedanken an
den verunglückten jungen Mann zu verdrängen, und
dachte dann doch wieder an Charlie. Er war nun schon so
lange fort. Wie kann jemand in der heutigen Zeit einfach spurlos verschwinden? Die Frage war ihr so vertraut, dass sie mit
keinerlei Gefühl verbunden war – außer der nervigen Verärgerung darüber, keine Antwort darauf zu haben. Seit
dreizehn Jahren lebte Charlie im Hintergrund ihres Bewusstseins, und dorthin verbannte sie ihn auch jetzt wieder, das Gesicht des Einundzwanzigjährigen, wie ein altes,
leicht vergilbtes Foto.
War der Verkehr an sonnigen Tagen immer so dicht?
Eigentlich unlogisch – die Leute sollten doch eher Lust
haben spazieren zu gehen, wenn das Wetter schön war.
Vielleicht kam Birch die Straße aber auch nur deshalb so
voll vor, weil sie unbedingt nach Hause und die Schuhe
ausziehen wollte. Zu dieser Tageszeit ähnelten die Salamander Street und die Seafield Road Parkplätzen, ganz
egal, wo man auf ihnen unterwegs war. Birch zuckelte im
Schritttempo am Friedhof vorbei und beobachtete dabei
die Fahrradfahrer, die durch den stehenden Verkehr kurvten. Der Geruch nach heißem Fett aus einem McDonald’sDrive-in vermischte sich mit dem süßlichen der Verwesung der Seafielder Kläranlage und dem der Hunderte
von Motoren im Leerlauf, die ihre Abgase hinter sich 
 
pusteten. Edinburgh, wie es die Touristen nicht zu Gesicht bekommen, dachte Birch und verfluchte die vermaledeite Ampelschaltung, die seit Jahren niemand in
Ordnung gebracht hatte. Doch schon bald hatte sie die
Kreuzungen hinter sich gelassen und konnte in den vierten Gang hochschalten, während das Meer – blau wie aus
einem Reisekatalog – zwischen den Gebäuden hindurchschimmerte.
Ein Geheimnis, von dem Birch nie jemandem erzählt
hatte: Sie hatte schon immer an der Promenade von Portobello wohnen wollen. Seit ihrer Kindheit, als sie mit
ihrem kleinen Bruder für Eselritte und Eiscreme dort gewesen war, sehnte sie sich danach, in einem der Häuschen
mit Blick aufs Meer zu Hause zu sein. Der Traum war zu
einem Plan und dann – erst vor zwei Monaten – Wirklichkeit geworden. Ein Mittelreihenhaus in Joppa, am Ende
des Strands, war auf den Markt gekommen, zu einem vernünftigen Preis wegen seines renovierungsbedürftigen
Zustands. Birch war dort am Tag ihrer Beförderung zum
Detective Inspector eingezogen. Die meisten Sachen befanden sich noch in Kartons. Und während sie die Portobello High Street entlangfuhr, geriet sie wieder in diese
Hochstimmung, die sich noch immer nicht gelegt hatte.
Ich fahr nach Hause.
Sie parkte halb auf dem Gehsteig. Zu Birchs neuem
Domizil gehörte in einer schmalen, kopfsteingepflasterten
Straße auf der Rückseite zwar auch eine Garage, aber die
war noch voll mit den Sachen des Vorbesitzers. Der alte
Mann, der in dem Haus gewohnt hatte, war verstorben,
und obwohl seine Kinder sich bereit erklärt hatten, aus
London zu kommen, um das Haus leer zu räumen, waren 
 
sie vor der baufälligen Garage zurückgeschreckt, die fast
bis zum Dach mit Kisten vollgestopft war. Und ehrlich
gesagt war auch Birch davor zurückgewichen – sie wusste
immer noch nicht, was sich in den Boxen befand. Sie redete sich ein, dass in der Garage noch genügend Platz für
ihre Kartons wäre, die sie gerade vom Gayfield Square abgeholt hatte – sie konnten warten bis zu irgendeinem Wochenende, an dem sie Zeit hätte, alles durchzusehen. Ja,
dachte sie, so mache ich das, obwohl sie bereits jetzt ahnte,
dass das nicht passieren würde.
Sie ging um das Haus herum zum China Express – ein
preiswerter Imbiss, der anstelle des einstigen Cafés am
Ende der Promenade eröffnet hatte. Zu ihrer Rechten war
das Wasser zurückgewichen. Ebbe. Kinder, winzig wie
Käfer aus dieser Entfernung, sprangen in den Wellen
herum und bespritzten sich. Fahrräder flitzten die Straße
rauf und runter, und überall waren Hunde: Hunde, die
stolz Treibholz im Maul trugen, und Hunde, die aus dem
Wasser preschten und einen feinen, salzigen Sprühnebel
auf die Passanten schüttelten. Links von ihr erstreckte
sich die gepflegte Reihe der Vorgärten, die die Promenadenbewohner in Schuss hielten. In einigen Gärten
saßen Nachbarn auf Campingstühlen im Schatten, Radiomusik dudelte leise in der warmen Luft. Birch grüßte
und winkte. Ihr Garten war der einzige ungepflegte in der
Reihe.
Die kleine Pforte aus Holz musste gestrichen werden,
an der Seite des Weges aus Backsteinen wucherten zwei
Stockrosen und streckten ihre fast drei Meter hohen Blütentürme in die Höhe. Der Garten war früher einmal
hübsch gewesen: Bei den Pflanzen handelte es sich nicht 
 
um vom Wind gesätes Unkraut, sondern um verholzte
und verwilderte Versionen ihres früheren, gepflegten
Selbst. Birch widerstrebte es, sie auszureißen. Der Garten
war nicht ansehnlich, aber alt, und sie fand, das sollte respektiert werden. Außerdem roch es in ihm wunderbar.
Grund war eine hellgelbe Rose, deren Ranken schon
längst über das Spalier hinauswucherten. Um das Wohnzimmerfenster wuchs eine Heckenkirsche, die im Begriff
war aufzublühen. Das Blattwerk war so dick, dass Birchs
Arm, hätte sie ihn denn hineingesteckt, ellbogentief darin
versunken wäre, ehe ihre Finger die Hausmauer berührt
hätten.
Bevor sie die Tür aufschloss, stellte sie sich mit dem
Rücken zum Haus und sah sich um. Von hier war die Erhebung des North Berwick Law zu sehen, dort, wo die
Grafschaft East Lothian sich in den Firth of Forth hineinwölbte. Am Horizont zogen riesige Frachter langsam
durch ihre Fahrrinnen. Dahinter lag Fife, ein graugrüner,
in der Abenddämmerung von stecknadelgroßen Lichtern
erhellter Flecken.
Eine mit einem knallrosa Hemd bekleidete Frau ging an
Birch vorbei, ein dicklicher, alter, schokobrauner Labrador trottete schwerfällig neben ihr her. »Wunderschöner
Abend!« Die Frau hob eine Hand zum Gruß und neigte
sie dann in Richtung Birch. »Irgendwas in Ihrem Garten
riecht ganz wunderbar.«
Birch grinste.
»Die Rosen!«, rief sie von der Tür aus zurück. »Sie
genießen die Sonne.«
Die Frau war nicht stehen geblieben, sondern hinter
den Stockrosen verschwunden – ein rosafarbener Hinter-
 
grund zwischen den Blättern – und erwiderte: »Möge die
Sonne noch lange scheinen. Bis dann!«
Den Hausschlüssel in der Hand, drehte sich Birch lächelnd um.
Sie hatte den verunglückten Jungen ganz vergessen. Erst
als sie es sich für den Abend bequem gemacht hatte, fiel
er ihr wieder ein. Sie hatte ihre Schuhe weggekickt, ihre
Yogahose angezogen und eine Flasche Wein geöffnet. Das
Haus war nach Osten ausgerichtet, und nachdem sie beschlossen hatte, dass ihr ein bisschen Sonne guttun würde,
ging sie in den Hintergarten, wo die Wärme des Tages
noch spürbar war. Das einzige Stück Garten, das Birch bis
jetzt gerodet hatte, war der hintere Teil: nur wenige Steinplatten breit, aber groß genug für eine Gartenbank, die,
wie alles hier, schon bessere Zeiten gesehen hatte. Birch
hatte einen kleinen Ikea-Tisch aus dem Haus geholt und
dazugestellt. Sie hatte für ihn nur fünfzehn Pfund bezahlt,
weshalb ein paar kleine Regenschäden nichts ausmachen
würden. Jetzt blickte sie auf einen flackernden roten
Lichtfleck auf der Tischfläche, während die Abendsonne
durch ihr halb volles Glas schien.
Lieber Gott, dachte sie wieder, als sie sich an den jungen
Mann erinnerte, bitte lass die Sache nicht auf meinem
Schreibtisch landen.
Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf die
wärmende Sonne und das Rauschen der Wellen, mit dem
sich die Flut langsam wieder dem Haus näherte. Hinter der Gartenmauer fuhren hin und wieder Autos vorbei, sie klangen wie das Gesumm von Bienen. Irgendwo
hatte jemand einen Grill angeworfen – der Qualmgeruch 
zog in der Dämmerung vom Strand her über die Hausdächer.
Es gibt genug, worüber ich im Moment nachdenken
muss, dachte Birch und schlug die Augen wieder auf. Wie
aufs Stichwort ertönte – irgendwo weit weg in der Stille
des Abends – der panische Klang einer Sirene.
 
13. Mai 20:59 Uhr
 
Über dem Kunstrasen auf dem Sportplatz der High
School und den bezopften Köpfen der jugendlichen Fußballerinnen wirbelten und tanzten die Motten und Mücken. Aus dieser Distanz sahen sie aus wie Glitterstückchen, die in einer Flüssigkeit schwammen. Mauersegler
tauchten in die Strahlen des Flutlichts und verschwanden
wieder daraus, ihre Schreie hallten an diesem milden
Abend über den Parkplatz. Ishbel Hodgekiss ließ die Fensterscheiben ihres Nissan Quashqai elektrisch hochfahren.
Sie wollte keine Mückenstiche riskieren.
Die Uhr im Armaturenbrett zeigte zwanzig Uhr neunundfünfzig, also schaltete sie das Autoradio ein, um die
Nachrichten zu hören. Sie hatte den Sprecher von Radio 2
erwartet, stattdessen aber dröhnte ihr ein billiger Jingle
entgegen: Abigail hatte mal wieder einen der lokalen Sender eingestellt.
Es ergeben sich einige Fragen, sagte der Nachrichtensprecher, hinsichtlich eines Unfalls, der sich heute auf einer Baustelle im Zentrum Edinburghs ereignet hat.
Ishbel beugte sich über das Lenkrad, um den gewünschten Sender wieder einzustellen. Die künstlich gut gelaunte
Stimme des Nachrichtensprechers tat ihr in den Ohren
weh.
Das Bauunternehmen behauptet, sagte er, der Mann habe 
 
sich nicht an die Sicherheitsvorschriften gehalten, als er aus
drei Metern Höhe auf das Fundament des Gebäudes stürzte.
Unsere Reporterin Jenna Buckie hat mehr …
Irgendwie hatte Ishbel den richtigen Knopf gefunden
und klickte durch die Sender, bis sie eine Stimme fand,
die sie wiedererkannte. Sie lehnte sich zurück und suchte
die Fußballfelder nach Abigail ab. Das Training war eben
zu Ende gegangen – sie hatte den Schlusspfiff gehört –,
ihre Tochter müsste bald durch das Tor im hohen grünen
Maschendrahtzaun geschlendert kommen, herüber zum
Auto.
Das noch immer bestehende Interesse ihrer Tochter an
Fußball fand nicht ganz Ishbels Zustimmung. Gegen Sport
am Abend war zwar nichts einzuwenden, aber seit Abigail
aufs College ging, sollten die außerschulischen Aktivitäten, wie ihre Mutter meinte, eigentlich akademischer sein.
Dass Abigail noch zu Hause wohnte, erfüllte hingegen
Ishbel mit leiser, wenngleich schuldbewusster Freude: Es
war vielleicht das einzig Positive an der Entscheidung ihrer
Tochter, nicht die Universität zu besuchen. Trotzdem
hatte Ishbel das Gefühl, dass sich ihre Tochter mit diesem
wöchentlichen Training an der High School – noch dazu
mit einer U-25-Mannschaft, zu der weitaus jüngere Mädchen gehörten – keinen Gefallen tat.
»Das Fußballtraining bringt nichts für deine zukünftigen Bewerbungen«, hatte Ishbel bereits mehr als einmal
gesagt.
»Doch«, hatte ihre Tochter geantwortet. »Es zeigt, dass
ich ein Teamplayer bin.«
Darauf hatte Ishbel noch immer nicht die richtige Antwort gefunden.
 
Die Mädchen strömten aus den lang gestreckten, niedrigen Gebäuden und gingen quer über den Kunstrasen zu
den Autos, die auf sie warteten. Die jüngeren von ihnen
stiegen in ähnliche Autos wie dasjenige, das Ishbel fuhr:
Familien-Limousinen und Kombis, in denen Taxi-Eltern
saßen. Die älteren Mädchen, diejenigen in Abigails Alter,
begaben sich oftmals zu Autos, die auf sie warteten  –
kleine Ford Kas und verrostete Citroën-Kleinwagen  –,
warfen ihre Sporttaschen auf den Beifahrersitz und fuhren selbst. Abigail hatte ihre Führerscheinprüfung noch
nicht bestanden, auch wenn das ständige Umstellen des
Radiosenders bewies, dass sie übte. Ein paar Mädchen
wurden allwöchentlich von nicht gerade vertrauenerweckenden Jungen abgeholt. Die jungen Männer saßen bei
laufendem Motor und aufgedrehter Musik in ihren aufgemotzten Imprezas, um dann mit laut quietschenden Reifen davonzurasen. Ishbel fand das schrecklich.
»Es gibt da einen Jungen«, hatte Aidan eines Abends
nebenbei bemerkt, vor rund einer Woche. Mit atemloser
Stimme, ähnlich wie die, mit der, in Ishbels Erinnerung,
Mädchen an der Schule Informationen weitergeben, wenn
sie auf der Toilette ihre Lippenstifte tauschen. Als wäre
er ein Mitverschwörer – ohne den Hauch von väterlicher
Sorge.
»Was soll das heißen – es gibt da einen Jungen?« Sie hatte
genau gewusst, was er meinte, es aber nicht zugeben wollen.
»Unsere Tochter hat vielleicht einen Freund.«
Ishbel schwieg. Natürlich hatte Abigail schon Freunde
gehabt. Aber das war auf der High School gewesen – damals, als Ishbel noch die Zeit festlegte, zu der Abigail nach 
 
Hause kommen musste, und Aidan bitten konnte, ihr bei
der Durchsetzung ihrer Regeln zu helfen. Inzwischen war
Abigail neunzehn. Im Geiste hörte sich Ishbel sagen: Nein,
nein, nein.
»Woher weißt du das?«
Aidan grinste sie nur an. Er stand vor der Frisierkommode, trug ein sauberes Hemd, und Ishbel sah seinen
Oberkörper im Spiegel, dreimal reflektiert. Aus irgendeinem Grund dachte sie damals – wohl zum ersten Mal
seit Jahren –, dass er ein sehr gut aussehender Mann war.
Noch immer war. Und kurz befiel sie eine altbekannte
Angst.
»Sie hat es mir gesagt«, entgegnete er. »Sie redet nämlich
mit mir.«
Ishbel hatte die Wäsche zusammengelegt. Jetzt erinnerte sie sich, auf das weiße Baumwoll-T-Shirt in ihren
Händen hinuntergeblickt und gesehen zu haben, wie es
sich rosa verfärbte, weil Wut ihren Blick trübte. In letzter
Zeit war sie ziemlich oft wütend auf Aidan – sie waren
wütend aufeinander. »Bist du denn nicht wütend?«, hatte
sie ihn angeblafft.
»Wütend?« Er fand das offenbar lustig.
Sie atmete tief durch. Erfindet er das nur, damit ich mich
aufrege? »Ich meine … früher warst du einer von diesen
Keiner-ist-gut-genug-für-meine-Tochter-Vätern. Du hast
ihre Freunde gehasst. Wir haben Witze darüber gemacht.«
Er wandte den Blick ab und strich mit den Händen an
der Vorderseite seines Hemdes hinunter, um es zu glätten.
»Stimmt«, sagte er. »Und wenn dieser junge Mann ihr das
Herz bricht, zertrümmere ich ihm die Kniescheibe ganz
bestimmt.«
 
Ishbel verdrehte die Augen. Als junge Frau hatte sie
Aidans Gefühllosigkeit, seine männliche Angeberei gemocht. Mittlerweile empfand sie beides nur noch als nervtötend, und das wusste er.
»Aber jetzt ist sie erwachsen«, redete er weiter. »Auch
ein beschützender Vater muss wissen, wann er einen
Schritt zurücktreten muss.« Er hielt inne und warf ihr
einen Blick zu. »Und eine neurotische Mutter sollte lernen, ein bisschen runterzukommen.«
Ishbel schloss die Augen. In letzter Zeit gehörten diese
kleinen Spitzen zu ihrer täglichen Routine, zu dieser Komikernummer, deren Schauspieler sie offenbar beide
waren. Warum bleibe ich?, hatte sie sich mehr als einmal
laut gefragt. Wegen Abigail, lautete immer die Antwort.
Abigail, die ihren Dad abgöttisch liebt. Sie würde es dir niemals verzeihen.
Es entstand eine lange Stille. Die vertraute Angst
schwappte in Ishbel, als wäre sie schmutziges Wasser, bis
sie fand, dass sie endlich etwas sagen musste. »Sie redet
auch mit mir.«
Aidan zog ein Vielleicht-Gesicht, und nicht zum ersten
Mal juckte es ihr in den Fingern, ihm eine Ohrfeige zu
geben.
»Natürlich«, hatte er dann gesagt. »Aber in letzter Zeit
warst du oft ziemlich abgelenkt.«
Ishbel schüttelte die Gedanken ab. Auf der anderen
Straßenseite verschwamm der Inverleith Park im Schatten
seiner Bäume zu einer dunklen Masse. Wenn sie in den
Rückspiegel blickte, zeichneten sich die spitzen Türmchen
der Fettes School als Silhouette vor dem dämmrigen
Himmel ab. Erst nach zehn Uhr würde es richtig dunkel 
 

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