Die Insel der Letzten Geheimnisse. ***WERBUNG***
Ein altes Haus hoch über dem Meer. Eine Insel, auf der niemand wagt, die Wahrheit zu sagen.
Niemals wollte Thérèse nach Korsika zurückkehren, auch wenn sie immer wieder eine Sehnsucht verspürt nach dem alten Haus der Familie auf den Klippen hoch über dem Meer. Doch nun erfordert eine Erbsache ihre Anwesenheit vor Ort. Sofort nimmt die raue Schönheit der Insel sie wieder gefangen: die Wildheit der Macchia, die Wellen, die gegen die Felsen branden. Aber nur zu bald holt die dunkle Vergangenheit ihrer Familie sie ein. Sie fühlt sich beobachtet, und eines Morgens wacht sie als Gefangene in einem fremden Haus auf. Was geht hier vor sich? Niemand will ihr helfen. Denn auf dieser Insel kennt zwar jeder außer Thérèse die Wahrheit, aber alle schweigen ...
Zu der Autorin:
Emma Piazza wurde in Pavia geboren; ihre Mutter ist Italienerin, ihr Vater Korse. Sie arbeitet in einer literarischen Scout-Agentur und lebt derzeit in Barcelona. Mit »Die Insel der letzten Geheimnisse« hat sie sich ihren Traum erfüllt und das Buch geschrieben, nach dem sie immer gesucht hat.
Also der Klappentext hört sich doch vielversprechend an Ich liebe Bücher wo es um Geheimnisse geht.
Das Buch hat etwas von einem Krimi würde ich mal so sagen was ich so erstmal nicht erwartet habe.
Die Personen im Buch sind gut Beschrieben und auch die Orte sind gut vorstellbar beschreiben.
Das einzige was ich fand,das ich sehr schwer ins Lesen kam,ich hatte immer das Gefühl es zieht sich wie ein Kaugummi.
Aber irgendwann im Laufe des Lesens legte es sich und ich muss sagen dann konnte ich es doch sehr gut weiter lesen.
Die Handlung zum Ende hin muss ich sagen hätte etwas mehr Inhalt vertragen können das war alles etwas Knapp erzählt. Es war aber alles Einleuchtend und man hat es auch gut verstanden.Und es sind auch keine Fragen offen geblieben.
Das Fazit zu diesem Buch ist:
Je mehr man liest desto besser kommt man mit dem Schreibstil zurecht so empfand ich es nun. Die Geschichte ist doch sehr Spannend und die Figuren finde ich auch sehr gut geschreiben.
So nun kommen wir zu dem Geheimniss und zwar die Lösung.... ääää die müsst ihr dann doch wieder selber lesen.
Leseprobe
Prolog
Cap Corse, März 2016
Ich lebe. Mir ist nichts passiert, das spüre ich. Wir leben beide noch, und ich weiß nicht, ob das gut oder schlecht ist. Ich richte das Gewehr auf ihn und versuche, ruhig zu bleiben und einen kühlen Kopf zu bewahren, aber mein Herz rast, und mein Atem will sich nicht beruhigen. Um uns herum die tiefe Dunkelheit der Macchia. Das dumpfe Klatschen der Wellen, die gegen die Klippen rollen. Das Heulen des Libeccio, der in jede Ritze dringt wie ein schleichendes Gift. Wild fegt er durch das Unterholz und die trockenen Zweige der Bäume, kräuselt das Meer, nichts kann ihm entkommen. Ein Fenster schwingt auf, der Duft nach Eukalyptus strömt herein und bringt mich in meine Kindheit zurück. Widersprüchliche Gefühle steigen in mir hoch. Dennoch lasse ich ihn keine Sekunde aus den Augen. Er war mein Held, mein Pirat, mein Idol.
Und jetzt steht er wie versteinert vor mir. Er sieht mich mit seinem klaren, stechenden Blick an, aus diesen Augen, die meinen so ähnlich sind. Ich ziele auf den Kopf. Im Lauf sind noch ein oder zwei Kugeln, ich kann es mir nicht leisten, danebenzuschießen. Wie bin ich zu der geworden, die ich heute bin? Wie viel Hass habe ich in mir? »Weißt du noch, wie du zu mir gesagt hast, es wäre ein Fehler, Kinder zu bekommen? Und dass du es bereust?« Er antwortet nicht. Kein Muskel bewegt sich, nicht in seinem Gesicht, nicht an seinem Körper. Oder war da ein fast unmerkliches Zucken um den Mund? Ich weiß, dass er sich erinnert. Er hat es oft genug wiederholt. Aber erst jetzt begreife ich, dass er es wirklich ernst gemeint hat. »Erinnerst du dich, Papa?« Meine Stimme ist voller Wut. Zum Verzeihen ist es zu spät. Es gibt auch nichts, womit er sich rechtfertigen könnte. Weder mit Angst noch mit Unsicherheit noch mit einem uralten Schmerz. »Du hattest recht«, sagte ich, als er nicht antwortet. Ein Schuss löst sich. Der Rückstoß des Gewehres wirft mich zu Boden, etwas zerreißt die Luft. Alles löst sich auf: ich, er, der Plan, das Haus, das Kind, wir beide. Und etwas, an das ich mich dreißig Jahre lang verzweifelt geklammert habe, ist mit einem einzigen Schuss endgültig vorbei.
Kapitel Eins
Lissabon, Ende Februar 2016 Du fehlst mir. Das ist das Erste, was ich dir sagen möchte. Du fehlst mir, und seit du nicht mehr da bist, ist mein Leben ein einziges Tappen im Dunkeln. Ich habe gleich die erstbeste Wohnung gemietet, die mir untergekommen ist. Sie ist wunderschön, aber auch teurer als geplant, geht nach Südwesten und hat ein hohes, breites Fenster, durch das viel Licht hereinfällt. Ich habe diese Wohnung ganz allein für mich gemietet – du wirst sie vielleicht nie zu sehen bekommen. Der Gedanke, dass es etwas in meinem Leben gibt, das du nicht kennenlernen wirst, bricht mir das Herz. Ich darf nicht daran denken. Ich stelle den Kaffee von gestern zum Aufwärmen auf den Herd, mache das Fenster weit auf und lasse die Sonne und ihre Kraft herein. Lissabon wird nicht umsonst die »Stadt des Lichts« genannt.
Und gerade jetzt brauche ich einen Ort, der mich daran erinnert, dass jeden Morgen die Sonne wieder aufgeht und einen neuen Tag bringt. Ich hole tief Luft und sage mir, dass alles in Ordnung ist. Noch ist der nächste Abend mit seinen Schatten weit weg. Zunächst aber erwartet mich draußen ein heller Tag. Die Straßen scheinen direkt in den Himmel hinaufzuführen, der dunkelrot leuchtet. Wenn ich in eine von ihnen einbiege, stelle ich mir vor, dass an ihrem oberen Ende das Nichts beginnt. Ich laufe ziellos herum, ich muss meinen Kopf freikriegen. Pastellfarbene Häuser, Mosaikfliesen, ein alles beherrschendes Weiß. Die ganze Stadt ist weiß, und ich fühle mich wie ein schmaler dunkler Umriss auf einem weißen Blatt Papier. Ich bin hierhergekommen, weil ich dachte, der Umzug würde mir helfen, dich zu vergessen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Da ist nämlich etwas, das mich geradezu zwingt, öfter an dich zu denken, als mir lieb ist. Und es schmerzt, dass du nicht anrufst. Als ob ich aus deinen Gedanken verschwunden wäre, so wie ich manchmal von dieser Welt verschwunden zu sein scheine. Dann wieder sage ich mir, dass all das nur Gefühle sind. Das Gehirn ist voller Gift, wenn es unter Stress steht. Um den abzubauen, esse ich viel Gemüse, vor allem Brokkoli, und trinke Wasser mit einem Schuss Zitrone wegen der Vitamine. Obwohl ich mir immer wieder einrede, dass ich jung und stark bin und das ganze Leben noch vor mir habe und dass sich mir gerade die Chance schlechthin bietet, kann ich einfach nicht vergessen, was du mir bedeutet hast. Deshalb setze ich mich auf meinen Streifzügen immer wieder auf eine Bank und breche in Tränen aus. Und frage mich, ob du mich hörst. Ich bin dreißig und attraktiv, vielleicht sogar schön. Meine Augen sind schmal und grün. Wie bei einer Spionin, hast du immer gesagt. Dazu gelockte, schulterlange Haare, weizenblond, zwischen denen ich vor einigen Tagen ein weißes entdeckt habe. Meine Figur ist noch immer schlank, wenngleich meine wohlgerundeten Hüften und meine Brüste nicht mehr die eines jungen Mädchens sind. Aber ich habe es satt, ständig über mein Aussehen nachzudenken – jetzt, da ich meinen Zenit zu überschreiten beginne, wird mir bewusst, wie unwichtig mir das eigentlich ist. Wenigstens für eine Weile will ich das ausblenden. Schließlich bin ich in diese Stadt gezogen, um nicht mehr nachzudenken. An nichts zu denken. Kein Ziel zu haben. Bis zur Erschöpfung spaziere ich durch Lissabon. Damit fülle ich die Leere. Ganz egal, welche Straße ich nehme, früher oder später lande ich fast immer auf der Praça do Comércio, einem der zentralen Plätze der Stadt, und betrachte das Meer und den Fluss. Heute ist das nicht anders. Als ich wieder zu Hause bin, habe ich weiche Knie, und meine Beine gehorchen mir nicht mehr. Stille umfängt mich, ein angenehmes und zugleich schmerzhaftes Gefühl. Die leere Leinwand in der Mitte des Raumes starrt mich vorwurfsvoll an und erinnert mich daran, wie schwer es ist, alles zurückzulassen. Vielleicht sogar noch schwerer als für das zu kämpfen, was einem wichtig ist. Du hingegen hast es schon so viele Male getan, hast einfach alles hinter dir gelassen, und vielleicht sollte ich ebenfalls lernen, im Hier und Jetzt zu leben, den Moment zu genießen. Heute Abend jedoch, vor dieser leeren Leinwand, fühle ich mich vollkommen kraftlos.
Heute ist Samstag, und die Sonne geht langsam zwischen den Wolken unter. Ich lasse das Fenster einen Spaltbreit offen, und obwohl es noch früh ist, schlüpfe ich ins Bett und lasse mir unter meiner Decke von der Lissabonner Luft das Gesicht streicheln. Und während ich auf den tröstenden Schlaf warte, wandern meine Gedanken in eine Zukunft, in die du nicht eingeladen bist. Nach nicht einmal zwei Stunden schrecke ich hoch. Ich habe schlecht geträumt, und mir ist kalt. Außerdem hat eine Windböe das Fenster zugeschlagen. Ich stehe auf und verriegele es, hole mir einen Pulli und rolle mich auf dem Sofa zusammen. Ich schaffe es nicht, an etwas Schönes zu denken. Jedes Mal, wenn ich früh einschlafe und plötzlich wach werde, bin ich schlechter Laune. Was soll ich machen? Es ist fast neun. Ausgehen kommt nicht infrage. Draußen ist es dunkel, das Licht hat mich verlassen. Seit einigen Monaten habe ich Angst vor der Dunkelheit. Ich starre auf einen Punkt im Nichts, streiche abwesend über meine Haare, rufe mir Situationen aus meinem früheren Leben ins Gedächtnis, die jetzt schmerzliche Erinnerungen sind. Ein Geräusch am Fenster lässt mich zusammenfahren. Durch die Scheibe sehe ich einen Schatten, auf dem Balkon bewegt sich etwas, ich stehe auf, um nachzuschauen. Mein Herz schlägt schneller. Draußen auf dem Balkon frisst eine Möwe einen kleineren Vogel. Ich habe einen Moment gebraucht, bis ich es erkannt habe, denn die Flügel der Beute sind bereits vom Körper gelöst und liegen auf der anderen Seite des Balkons. Als die Möwe mich bemerkt, sieht sie mich aus ihren gläsernen schwarzen Augen an. Ihr Schnabel ist blutverschmiert. Die Brust ihres Opfers hat sie bereits gefressen, nur der Kopf ist übrig, wenngleich kaum noch als solcher zu erkennen. Ich traue mich nicht, die Türen zu öffnen und sie zu verscheuchen, zu groß ist meine Angst, sie könnte mich angreifen. Während sie mich anstarrt, einen undefinierbaren Fetzen im Schnabel, wird mir schlecht – so schlecht, dass es mir hochkommt und ich ins Bad renne. Nachdem ich mich übergeben habe, atme ich tief durch, um mich zu beruhigen und mich der Situation erneut zu stellen. Ich zwinge mich, ins Wohnzimmer zurückzugehen und einen Blick auf den Balkon zu werfen, aber die Möwe ist nicht mehr da. Außer den Flügeln hat sie nichts von dem Vogel übrig gelassen. Ob ich mich überwinden kann, den Balkon sauber zu machen? Vielleicht kann ich die Überreste ja einfach runterwerfen.
Als ich gerade Schaufel und Besen aus der Küche hole, klingelt das Handy, und das Display leuchtet auf. Mein erster Gedanke ist, dass du es sein könntest. Doch dann fällt mir ein, dass du meine neue Nummer gar nicht hast. Die Einzige, der ich sie gegeben habe, ist meine Mutter. Außer dem Anruf sind eine Menge WhatsApps eingegangen. Der Anruf kommt aus Frankreich, das erkenne ich an der Vorwahl. »Hallo?« Mir antwortet eine weibliche Stimme auf Französisch, die ich nicht gleich identifizieren kann. »Salut, Thérèse, hier ist Tante Louise. Wir haben uns schon eine Weile nicht mehr gesprochen, ich hoffe, es geht dir gut.« Sie übergeht die Tatsache, dass meine Großmutter sich vor zwei Jahren eine neue Nummer zugelegt und es nicht für nötig gehalten hat, sie mir mitzuteilen. »Ich habe euch doch einen Brief geschickt, weil ich euch telefonisch nicht erreichen konnte«, erwidere ich. »Wir haben gar nichts bekommen. Wie schade.« »Na so was, das ist ja wirklich seltsam.« »Stimmt«, antwortet sie und fährt gleich fort: »Jedenfalls habe ich gute Nachrichten für dich: Großmutter teilt das Erbe auf, sie will dir eines ihrer Häuser auf Korsika vermachen. Dazu müsstest du allerdings herkommen und die Eigentumsübertragung unterschreiben.« »Oh.« Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Die ganze Sache ist irgendwie komisch. Ich bin sicher, dass Großmutter mir das Piazza_Insel_CC18.indd 14 30.10.2018 10:33:50 15 Haus nur deshalb vermachen will, damit mein Vater es nicht erbt, was meine Tante natürlich mit keiner Silbe erwähnen wird. »Wann soll ich denn kommen?« »So schnell wie möglich.« »In Ordnung … Ich muss mal sehen, wie ich am besten anreise.« Ich frage sie nach Großmutter. Sie sagt, es gehe ihr gut und sie wolle mich sehen. Was natürlich gelogen ist, aber egal. Ein Haus könnte ich gut gebrauchen, ich könnte es verkaufen und mir eine Wohnung in Lissabon zulegen. Oder in Barcelona, wo ich vorher gelebt habe. Ich könnte selbst darin wohnen oder sie vermieten und von den Mieteinnahmen leben. Eine Wohnung, die ganz allein mir gehört. Mit wem sollte ich sie auch teilen? »In Ordnung«, sage ich also, »ich schaue nach einem Flug. Ist das deine Nummer? Gut, geht klar, ich danke dir.« Nachdem ich aufgelegt habe, ist mir seltsam zumute. Mein Rücken ist schweißnass, und aus irgendeinem Grund zittere ich am ganzen Körper. Ich schaue mir die WhatsApps an, sie sind alle von meiner Mutter. Louise hat angerufen, schreibt sie. Großmutter will dir ein Haus überschreiben. Die spinnen ja. Dann: Skype, wann immer du willst. Irgendwie beunruhigt mich die Neuigkeit. Auch wenn es eine erfreuliche Nachricht ist, sagt mir irgendetwas, dass ich vorsichtig sein muss. Außerdem will ich mich nicht mit meinem Vater überwerfen. Eigentlich wollte ich mit keinem von ihnen mehr etwas zu tun haben.
Korsika ist für mich zu einem schwarzen Loch geworden, in das meine Gefühle eingesogen werden, um im Nirgendwo zu verschwinden. Ich beschließe, erst einmal die Überreste des toten Vogels zu entsorgen, bevor ich etwas wegen der Reise unternehme. Doch als ich die Balkontür öffne, sind die Flügel verschwunden. In Lissabon scheint alles ständig im Fluss zu sein. Daran muss ich denken, als ich in einer Bar sitze, deren blaue Wände mit antiquarischen Büchern bedeckt sind. Vor mir steht ein Salat mit Avocado und Granatapfelkernen, den ich noch nicht angerührt habe. Ununterbrochen signalisiert das Piepen meines Handys den Eingang neuer Nachrichten und lässt meinen Adrenalinspiegel in die Höhe schießen. Der Barbesitzer, ein Brasilianer, jünger als ich, beobachtet mich verstohlen aus den Augenwinkeln, während er Gläser abtrocknet. Im Moment bin ich der einzige Gast. Wahrscheinlich ist die Küche um diese Zeit normalerweise nicht mehr geöffnet, aber ich tue ihm wohl leid. Seit einer Woche, seitdem ich jeden Tag regelmäßig gegen vier hierherkomme, steht immer wie von Zauberhand bereits der Avocado-Granatapfel-Salat auf dem Tisch. Ich esse stets das Gleiche – zum einen, weil mir der Salat schmeckt, zum anderen, weil ich seine Pläne nicht durcheinanderbringen will. Als ich die Bar zum ersten Mal betreten habe, war ich so nervös und unsicher, dass ich den Brasilianer gebeten habe, mir einfach irgendetwas zu bringen, doch als er mir einen Teller mit ganzen Krebsen inklusive Kopf servierte, wäre ich um ein Haar ohnmächtig geworden. Seitdem macht er keine Experimente mehr und stellt mir jeden Tag den gleichen Salat hin. Ich könnte mich also entspannen und die Atmosphäre der Stadt ebenso genießen wie den Salat – und doch kann ich es nicht, denn seit dem Anruf meiner Tante habe ich ein ungutes Gefühl. Ich bemerke, dass der Brasilianer mich anlächelt und auf den Teller vor mir deutet, als wollte er fragen, ob es mir nicht schmeckt. Rasch steche ich die Gabel in den Salat und beiße in eine Scheibe Vollkornbrot. Die Granatapfelkerne platzen in meinem Mund, und ich schließe die Augen, um mich auf den sauren Geschmack zu konzentrieren.
Als ich sie wieder öffne, wirkt der Barmann zufrieden, er verschwindet in der Küche, und ich richte meine Gedanken wieder auf meinen Job, denn auch hier muss ich meine Möglichkeiten überdenken. Ich arbeite seit vier Jahren für eine Grafikagentur und gehöre zu den wenigen Menschen, die ihren Job lieben, obwohl er anstrengend und mit einer gewissen Unsicherheit verbunden ist. Dafür hat er viele Vorteile, vor allem den, dass ich arbeiten kann, wo ich will. Barcelona, London, Lissabon, völlig egal. Hauptsache, ich sitze neun Stunden am Tag vor dem Computer. Außerdem gibt es auch mal ruhigere Zeiten, in denen ich mich nebenbei anderen Sachen widmen kann. Zum Beispiel dem Malen. Das einzige Problem ist, dass die Agentur nur aus mir und meinem Chef besteht, der in London lebt. Folglich gibt es nur wenig Perspektiven und, um es ganz klar zu sagen, nur wenig Geld. Es reicht gerade mal zum Leben, große Sprünge sind nicht drin. Eine Zukunft, in der ich endlich mal aufhören könnte, ständig davonzulaufen, und Wurzeln schlage, lässt sich damit nicht aufbauen. Inzwischen habe ich keine Angst mehr wegzugehen – aber das Zurückkehren habe ich nicht gelernt. Zumal kein Ort es wert ist, wenn ohnehin ein Ort dem anderen gleicht. Das solltest du inzwischen bemerkt haben. Oder ist meine Abwesenheit wirklich so unbedeutend für dich? Seit einem Monat haben wir nicht mehr miteinander gesprochen. Vielleicht wartest du darauf, dass ich dich anrufe. Aber schließlich bin ich fortgegangen und habe nicht vor, zurückzuschauen. Weißt du, was für mich noch schlimmer ist, als dich verloren zu haben, Sofia? Dich abends zurückkommen zu sehen. Ich bin kein böser Mensch, jedenfalls dachte ich das. Aber dein Blick sagt mir jeden Abend etwas anderes. Wirst du mir jemals verzeihen können? Auch letzte Nacht bist du zu mir gekommen. Das Zimmer war dunkel, im Haus war alles still, ich war in einem Zustand zwischen Wachen und Schlafen. Plötzlich erfüllte ein intensiver Geruch nach verwelkten Blumen die Luft. Ich wusste, dass du es bist, dass du dich damit ankündigst. Ich schlug die Augen auf.
Die Tür öffnete sich lautlos. Ich sah zu, den Kopf unbeweglich auf dem Kissen, der Körper wie gelähmt. Angst. Der Blumengeruch wurde intensiver. Plötzlich standest du auf der Schwelle und trugst wie immer das himmelblaue Kleid, das Elin dir zuletzt gekauft hatte. Du bist nicht ins Zimmer gekommen, hast keinen Schritt auf mich zu gemacht, hast nichts gesagt. Hast einfach nur dagestanden in der Dunkelheit und mich angesehen. Ich wollte etwas sagen, konnte es jedoch nicht. Stattdessen spürte ich, wie mir Tränen über die Wangen liefen. Plötzlich schlug ein Windstoß die Tür zu. Dann hörte ich einen Schrei, Elins furchtbaren Schrei. Danach war wieder alles still, nichts regte sich mehr. Ich blieb schweißgebadet liegen, meine Seele war wie tot. Ich bin schwanger. Das ist das Zweite, was ich dir sagen würde. Ich habe es vor einigen Tagen festgestellt. Endlich weiß ich, woher diese seltsamen Vorahnungen kommen, die mich so beunruhigen. Aus meinem Bauch. Dieses Kind bringt mir kein Glück. Es ist ein Eindringling, der hinter der Ecke auf mich lauert. Der mir nach dem Leben trachtet, mich ruinieren will. Eigentlich dachte ich immer, ich wäre nicht so gefühlsbetont wie die meisten Frauen und würde weniger kompliziert denken. Doch jetzt, da ich schwanger bin, stelle ich fest, dass ich mich geirrt habe. Natürlich ist die Situation an sich nicht gerade einfach. Auch für dich nicht, wenn du es erfährst. Ich will dieses Kind nicht. Vielleicht hätte ich es gewollt, wenn wir zusammengeblieben wären, vielleicht auch nicht. Gut möglich, dass ich selbst dann nicht bereit gewesen wäre, auf alles zu verzichten. Denn im Endeffekt wäre alles an mir hängen geblieben. So war es immer. Obwohl ich dieses Kind nicht will und keine große Rücksicht auf es nehme, wächst es in mir heran. Ich jogge, mache Bauchübungen und Squats, mir egal, ob ich das Kind verliere. Heute habe ich einen Luftsprung gemacht und die Füße aneinandergeschlagen, als ob ich es herauspressen wollte. Ich habe gehofft, es würde einfach aus mir herausfallen. Vorher hätte ich es wenigstens als etwas sehen können, das uns verbindet – etwas, das wir gemeinsam gemacht haben. Aber jetzt ist es lediglich eines der vielen Dinge, die zu dir gehören und die ich hinter mir lassen will. Überdies würde das Kind mir alles nehmen, vor allem meine Freiheit. Und Freiheit hat ihren Preis. Ich würde sie nur dann verkaufen, wenn der Preis hoch genug wäre. Du hättest diesen Preis nie bezahlt. Stör mich jetzt nicht, siehst du nicht, dass ich müde bin?, würdest du sagen. Und was bin ich? Wer denkt an mich? Wer steht auf, wenn das Kind nachts um zwei weint? Ich könnte es nicht ertragen, wenn du genervt wärst. Würdest du mir überhaupt helfen? Mir und uns? Nein, das könntest du gar nicht. Deshalb kommt dieses Kind weg. Dann wirst du nie davon erfahren.
Meine Tage sind einer wie der andere, mit minimalen Variationen. Meine einzig echte Aktivität außer der Arbeit sind meine Portugiesischstunden zweimal die Woche bei einem gewissen William Cole, einem Engländer. William ist ein sehr eigenwilliger Typ, der immer aussieht, als hätte er seit Monaten das Haus nicht verlassen. Seine bleiche Haut wirkt fast durchsichtig, und unter seinen blauen Augen liegen dunkle Ringe. Er dürfte etwa fünfzig sein, und trotz seiner knochigen Gestalt und seiner spröden Art ist er ein faszinierender Mann, elegant und mit tadellosen Umgangsformen. Er spricht nie von sich. Während des zweistündigen Unterrichts lesen und sprechen wir auf Portugiesisch, er bringt mir neue Vokabeln bei und übt sie so lange mit mir, bis ich sie intus habe. Dann beschäftigen wir uns mit Konjugationen und Grammatikregeln. Wir haben uns nie über etwas anderes unterhalten – was ich durchaus gerne tun würde –, und obwohl ich nichts über ihn weiß und er nichts über mich, hat sich zwischen uns eine gewisse Vertrautheit eingestellt, die ich nicht wirklich zu beschreiben vermag. Er ist ein Freund der besonderen Art. Manchmal überrasche ich ihn dabei, dass er mich ansieht, wobei in seinem Blick nichts Zweideutiges liegt. Eher eine gewisse Verzweiflung, die ihn mir näherbringt. Nicht dass ich jemals danach gefragt hätte, womit er sich beschäftigt oder beschäftigt hat, aber ich glaube, dass er ursprünglich etwas ganz anderes getan hat, als Sprachkurse zu geben. Die Wände in seiner Wohnung sind mit Büchern vollgestellt. Großformatigen Bänden mit steifen Rücken, lauter Kunstbüchern. Er lebt allein, zumindest hat es den Anschein. Trotzdem glaube ich, dass er eine Frau hat oder zumindest hatte, was ich aus einem Schwarz-Weiß-Foto im Wohnzimmer schließe, das eine sehr junge, etwa achtzehnjährige Frau, fast noch ein Mädchen, zeigt. Ich habe ihn nicht gefragt, wer sie ist. Allerdings ist mir aufgefallen, dass sie Ähnlichkeit mit mir hat. Vielleicht schaut er mich deshalb so an, als würde er mich seit einer Ewigkeit kennen. Auch wir mochten Kunst, erinnerst du dich? Ganze Tage verbrachten wir im MACBA in Barcelona. Ich habe dir Bilder gezeigt, bin von einem zum anderen gesprungen, habe dir alles erklärt, und du hast mir aufmerksam und neugierig zugehört. Du mochtest meinen Enthusiasmus, meine Leidenschaft, meine Energie – die hast du am meisten an mir geliebt. Berauscht von dieser Energie haben wir, wenn wir nach Hause kamen, miteinander geschlafen. Wir schleuderten die Sandalen von den Füßen und kuschelten uns unter die Decke. Momente des Glücks. Und dann, mit einem Mal, war es, als ob alle Museen plötzlich auf immer geschlossen hätten. Wir trugen keine Sandalen mehr, und das Bett im Carrer de Guàrdia blieb immer öfter leer. In einer Woche fliege ich nach Korsika, ich habe einen sündhaft teuren Direktflug gebucht, ohne Zwischenlandung in Paris. Ich fliege nicht gern, vor allem dann nicht, wenn ich gestresst bin, doch das Flugzeug ist die einzige Option. Korsika ist vom Rest der Welt abgeschnitten. Und wenn irgend möglich, würde die Insel sich sicher noch weiter zurückziehen. Mit dem Schiff dauert es ewig, außer man setzt von Livorno über, da braucht man etwa vier Stunden. So habe ich es immer gemacht, solange ich noch bei meiner Mutter in Italien wohnte. Allerdings musste ich vorher stundenlang mit dem Zug über Genua nach Livorno fahren, dann die oft stürmische Überfahrt inklusive Übelkeit, von der ich mich tagelang nicht erholte. Und auf der Rückreise das gleiche Spiel. Und die Aufenthalte selbst? Meist gab es endlose Diskussionen mit meinem Vater, bis er sich bereit erklärte, wenigstens einmal meine Großmutter zu besuchen. Mit ein Grund, warum ich meine Aufenthalte zuletzt sehr verkürzt habe. Mein Vater ist ein autoritärer und leicht reizbarer Mann. Er steht ständig kurz davor, die Nerven zu verlieren. Am ersten Tag eines Wiedersehens bringt seine Art mich in der Regel zum Lachen. Aber schon am zweiten Tag macht er mich nervös, und am dritten halte ich es kaum mehr aus, beginne, alles in meiner Umgebung zu hassen: die schlechte Infrastruktur auf der Insel samt ihrer Bewohner und ihrer Gespräche ebenso wie das Motorrad meines Vaters, eine Harley, die er sich vor einigen Jahren gekauft hat, wofür ihn manch einer belächelte. Er wollte sie, also hat er sie gekauft. Jedes Mal, wenn ich ihn besucht habe, kam er mich mit seiner Maschine abholen.
Es gibt bloß eine einzige Straße, die rund um den »Finger« der Insel, das Cap Corse, führt, und an deren einer Seite die Klippen steil zum Meer abfallen und auf der anderen die Berge aufragen. Korsika besteht überwiegend aus Felsen. Scharfkantigen Felsen. Wer dort abstürzt, ist sofort tot. Dennoch gab mein Vater Vollgas, überholte in der Kurve und lenkte auch mal nur mit einer Hand, etwa weil er rauchte. Ja, er rauchte selbst beim Fahren. Ich durchlebte dabei immer Höllenqualen, weil ich mir vorstellte, dass wir jeden Moment an den Felsen zerschellen würden. Etwas an der bevorstehenden Reise beunruhigt mich, meine pessimistische Seite ist in Alarmbereitschaft. Andererseits versetzt mich die Aussicht auf ein eigenes Haus in Hochstimmung und verleiht mir eine ungeheure Energie. Geld ist wichtig, das habe ich mittlerweile begriffen. Und ein eigenes Haus ist besser als immer neue Mietwohnungen an immer neuen Orten, an denen ich, wie hier in Lissabon, so gut wie niemanden kenne und auch nicht kennen möchte. In Barcelona war es anders, da fühlte ich mich zu Hause – bis ich dort alles verlor. Dafür bietet sich mir mit einem Mal völlig unerwartet die Chance auf ein eigenes Haus, ein richtiges, solides Haus. Dieses Erbe ist die Antwort auf meine Probleme, die einzige Möglichkeit, Stabilität zu gewinnen. Eine Zuflucht, ein schützendes Dach, das selbst dem Sturm trotzt. Ich will es haben, ich habe es verdient – und ich werde es zu meinem Haus machen. Heute bin ich mit einem ruhigeren Gefühl aufgewacht, weißt du das, Sofia? Tagsüber ziehen sich die Schatten, die in meinem Herzen wohnen, ein wenig zurück. Dann kann ich mit Wehmut an dich denken, und nicht mit der panischen Angst, die du nachts in mir auslöst. Ich stelle mir vor, dass du weit weg, aber glücklich bist. Und ich? Ich fühle mich müde und alt, es gibt nur noch wenige Dinge, die mir ein Lächeln entlocken. Mit dir ist auch meine Jugend verschwunden. Alles erscheint mir traurig und verloren, Sofia. Da ist etwas, das ich mir nicht erklären kann, obwohl ich schon so oft versucht habe, eine Antwort auf dieses Rätsel zu finden. Wenn doch eigentlich alles verblasst und die Zeit dabei hilft, Dinge zu verstehen oder zu vergessen – warum will mein Schmerz dann einfach nicht vergehen? Warum ist in meinem Herzen die Zeit stehen geblieben? Inzwischen bin ich ein alter Mann, der entwurzelt ist. Mir fehlt der Londoner Regen, das saftige Grün der endlosen Stadt. Lissabon dagegen wirkt statisch, ein Ort des Stillstands, bestehend aus Licht, Dächern und Katzen. Hier bin ich gefangen in einer nicht enden wollenden Gegenwart, die sich wie eine dunkle Wolke weder vor- noch zurückbewegt. Die Wahrheit ist, dass ich das Haus nicht mehr verlasse. Ich bestelle sogar meine Lebensmittel im Internet, lasse sie mir von einem Boten bis vor die Haustür liefern. Ich verweigere mich der Schönheit der Stadt, habe Sonne und Wärme vor Jahren ausgesperrt. Das war mal anders, weißt du? Am Anfang dachte ich noch, ich könnte es schaffen – doch ich habe mich getäuscht. Dabei versicherten meine Freunde und Bekannten es mir immer wieder. Die Zeit heilt alle Wunden, sagten sie.
Durch ihr bloßes Verstreichen würde sie die Verletzungen vernarben lassen, und so auch diese. Ich habe versucht, wieder auf die Füße zu kommen. Den Alltag zu bewältigen, meine Tätigkeit als Experte wieder aufzunehmen, neue Talente zu finden, alte, vergessene Künstler wiederzuentdecken, sie neu zu bewerten, zu analysieren, zu schreiben … All die Dinge, die mich immer am Leben gehalten haben, die meine Leidenschaft waren. Aber gleichzeitig haben sie mich von dir weggeführt, bei deiner Geburt und auch nachdem du gegangen warst. Ich habe jeden Job angenommen, habe mich kopfüber hineingestürzt. Meine Überlegungen folgten einer simplen Logik: Wenn es mir gelungen war, mich hinter einer Mauer von Aktivitäten zu verschanzen, sodass ich beinahe aus eurem Leben verschwunden war, müsste es mir auch jetzt gelingen. Ich dachte, ich könnte Distanz schaffen zu dem unerträglichen Schmerz, den ihr in mir ausgelöst habt. Ich habe mich getäuscht. Verstehst du? Das ist mir auf meiner ersten Reise klar geworden. In aller Frühe war ich von zu Hause aufgebrochen, um Elin nicht zu begegnen. Ich konnte ihr nicht einmal mehr ins Gesicht sehen. Bereits vor Sonnenaufgang war ich aufgestanden, um mich wie ein Dieb aus dem Haus zu schleichen. Es war noch dunkel in London und regnerisch, nach wenigen Schritten stieg ich in das Taxi, das hinter der nächsten Ecke auf mich wartete und mich zum Flughafen brachte. Von dort ging es nach Amsterdam, wo ich ein Treffen mit einem aufstrebenden Künstler hatte, der später innerhalb kürzester Zeit Millionen machen sollte. Ich schrieb die erste Biografie über ihn, ein lange gehegtes Projekt, ohne zu ahnen, wie berühmt er werden würde. Ich spürte, wie die Normalität mich streifte, kam endlich zur Ruhe. Nein, ich habe keine Angst, es zuzugeben. Den Bruchteil einer Sekunde war ich erleichtert. Ich weiß, dass dir das herzlos vorkommen muss, und das ist es auch. Ich bin ein erbärmlicher Mensch und verdiene meine Strafe. Damals aber habe ich das nicht erkannt. Ich glaubte, noch frei zu sein und dass ich einfach gehen könnte und nichts zu fürchten hätte außer mich selbst. Das dachte ich jedenfalls. Als ich an jenem weit zurückliegenden Morgen ins Taxi stieg, wollte ich nicht zurückschauen. Doch ich konnte nicht widerstehen und drehte mich nach dem Haus um. Weißt du noch, wie schön unser Haus in Angel war? Große Fenster, weiße Wände, Großmutters alte Möbel, vertraut und heiß geliebt. Dein Klavier mitten im Wohnzimmer. Das Bücherregal, das mein Vater zu füllen begonnen hatte und das wir immer weiter bestückten. Elin, die mir aus einem anderen Raum eine Frage zurief. Ihre nordischen Augen. Ich antwortete nicht, weil ich so fasziniert war von deinem Spiel, ich war in einer anderen Dimension – in der es nichts gab als dich und das Stück, das du für mich spieltest, und mich, der ich dich bewunderte. Alles vorbei. In jenem Augenblick, als ich mich ein letztes Mal zum Haus umwandte, sah ich sie. Ihren Umriss reglos hinter dem Fenster. So reglos, als würde sie nicht mal atmen. Sie trug einen ihrer gestreiften Flanellpyjamas, und obwohl es warm war, hatte sie ihren Morgenmantel übergezogen. Wie lange hatte sie schon dort gestanden? Die ganze Nacht? Elin war nicht im Schlafzimmer, fiel mir auf. Was ich nicht wissen konnte, denn seit Längerem schlief ich auf dem Sofa, wenn ich, was selten genug vorkam, mal zu Hause war. Nun aber war sie in deinem Zimmer. Und sie sah nicht auf das sich entfernende Taxi, sondern auf etwas, das sich in nichts auflöste. Ihre Augen waren leer, ihre Haut fahl, ihr schlaffer Körper wirkte, als hätte man ihm das Leben ausgesaugt. Einen Augenblick lang erkannte ich sie kaum wieder, es war, als wäre eine Fremde in unserer Wohnung. Mir gefror das Blut in den Adern.
Aber es war Elin, meine Frau. Ich wandte mich zum Taxifahrer und bat ihn, schneller zu fahren, denn mein Flug würde bald starten. Mir fehlte der Mut, zu bleiben und mich der Leere in den Augen meiner Frau zu stellen. Sie hätte mich eingesaugt, Sofia, und ich wäre nie wieder herausgekommen. Und dann begann ich, dich zu sehen. Nach zwei Tagen gehe ich wieder in die Bar des Brasilianers. Ich finde heraus, dass er Paulo heißt, und verabrede mich mit ihm auf der Praça do Comércio. Du kennst den Platz, du hast vor einigen Jahren sechs Monate hier gelebt. Vielleicht bin ich ja sogar deshalb nach Lissabon gegangen, weil es die einzige Stadt ist, in der du dich verloren gefühlt hast. Du bist hierhergezogen, um deinem Fernweh zu folgen. Aber ohne Arbeit hast du dich gelangweilt. Die Menschen, denen du hier begegnet bist, sind keine Freunde geworden. Die Frauen, die du hattest, haben dir nicht gefallen. Vielleicht hast du dich ja einsam gefühlt. Und jetzt bin ich selbst in dieser Stadt gelandet. Um dir zu beweisen, dass ich an einem Ort bleiben kann, an dem du es nicht ausgehalten hast, und dass ich bei meiner Arbeit doppelt so viel schaffe und es besser mache als du. Ich setze mich auf die Stufen, die im Fluss verschwinden, und frage mich, ob das hier Süß- oder Salzwasser ist, denn an dieser Stelle mischt sich das Wasser des Tejo mit dem des Atlantiks. Der weite Platz ist in das sanfte Licht des Sonnenuntergangs getaucht, das sich auf alles legt, auf die Gischtkronen der kleinen Wellen, auf die einheitlichen Fassaden der Häuser, auf die Haut meiner Hand. Wie es wohl wäre, mit Pinsel und Farbe dieses Licht auf die Leinwand zu bannen, überlege ich. Ständig kommt mir etwas Neues in den Sinn. Ich weiß nicht mal mehr, warum ich überhaupt hier auf Paulo warte, mit einem Mal würde ich viel lieber am Fenster in meiner Wohnung sitzen und ein Glas Wein trinken. Oder nach Italien zu meiner Mutter reisen und mit ihr plaudern. Gerade als ich gehen will, sehe ich ihn. Er ist nicht allein, er hat eine junge Frau bei sich. Ich habe keine Zeit, darüber nachzudenken, ob mich das ärgert oder nicht. Mittlerweile wundert es mich ohnehin, dass ich mich auf dieses Treffen eingelassen habe, ich habe nämlich überhaupt keine Lust, den Abend mit ihnen zu verbringen – will mich nicht darüber aufregen, dass er mit einer anderen kommt, noch mich dazu zwingen, nett zu sein.
Doch es ist zu spät. Ihre schemenhaften Gestalten kommen im Gegenlicht auf mich zu. Sie haben mich gesehen, ich kann nicht mehr weg. Paulo schaut mir in die Augen und lächelt. Der Kontrast zwischen seinen strahlend weißen Zähnen und seiner dunklen Haut fasziniert mich, und ich sage mir, dass das allein es vielleicht schon wert ist zu bleiben. Mit mir spricht er wie immer recht und schlecht Englisch, aber seine Stimme klingt sanft und beruhigend. »Fernanda, meine Schwester«, stellt er die Frau an seiner Seite vor. Fernanda ähnelt ihrem Bruder und lächelt mich enthusiastisch an. Ich drücke ihr die Hand und verspüre eine unerwartete Zärtlichkeit für den Barbesitzer, der mich nicht nur jeden Tag mit einem fertigen Salat erwartet, sondern mich gleich beim ersten Treffen seiner Familie vorstellt. Plötzlich bin ich euphorisch, finde es beinahe entlastend, dass noch jemand bei uns ist. Obwohl die Sonne untergeht, versuche ich, mich zu entspannen und nicht vor dem Abend zu fürchten, mich nicht von meiner Paranoia überkommen zu lassen. Die Dunkelheit hält nichts versteckt, außerdem bin ich in guter Gesellschaft, und ich sehne mich nach Ablenkung. Wir verlassen den Platz und schlendern durch die Stadt, laufen zahllose Gassen rauf und runter, und ich schwimme mit im Fluss Lissabons und deiner Sorglosigkeit, die viele Hafenstädte am Meer auszeichnet. Schließlich erreichen wir ein belebtes Viertel, in dem viele Touristen unterwegs sind. Ich lache viel, spreche laut in einer Mischung aus Englisch, Spanisch und ein paar Brocken Portugiesisch. Paulo blickt mir, wann immer sich die Gelegenheit bietet, in die Augen. Wir gehen in eine Bar, trinken einen Mojito,