Sand Grab ***WERBUNG***
Inhalt
Es ist kurz vor Weihnachten, und die neunjährige Amelie verlässt ihre Schule in Strömstad in Südschweden, um nach Hause zu fahren. Doch sie kommt nie an. Kurz darauf verschwindet ein weiteres Kind, und der Verdacht richtet sich gegen einen schweigsamen und sonderbaren Teenager in dem kleinen Ort. Doch als ein Polizist tot aufgefunden wird und kurze Zeit später ein explosionsartiger Brand in einer Scheune ausbricht, ist die Polizei hoch alarmiert. Kriminalinspektorin Embla Nyström von der Mobilen Einheit der Bezirkskriminalpolizei Västra Götaland, übernimmt den Fall. Leben die Kinder noch? Oder läuft im idyllischen Strömstad ein Serienmörder frei herum?
Über die Autorin
Helene Tursten, geboren 1954 in Göteborg, arbeitet als Zahnärztin, ehe sie sich ganz auf das Schreiben von Kriminalromanen konzentrierte. Ihre Serie um die Göteborger Kriminalinspektorin Irene Huss hat nicht nur viele Fans, sondern wurde auch erfolgreich verfilmt. "Sandgrab" ist der zweite Fall für die junge Polizistin Embla Nyström. Helene Tursten lebt in Sunne/Värmland und ist verheiratet mit einem Ex-Polizisten.
Von Seite eins ist das eine fesselnde Geschichte. Es ist alles fließend geschrieben und man kann es sich auch alles Bildlich gut vorstellen.
Auch reißt der Spannungsbogen gar nicht ab,er zieht sich bis zum Ende.
Auch die Personen sind sehr gut beschrieben und kommen Authentisch und echt rüber.
Leider habe ich den ersten Teil noch nicht gelesen aber das kennt ihr ja mittlerweile von mir das ich immer Mittendrinnen anfange. Aber ich muss sagen das schadet nix ich bin in die Geschichte und mit den Personen super klar gekommen es gab also keine offenen Fragen.
Der Vorgänger Roman heißt im übrigen Jagd Revier.
Ich bin auch wieder von diesem Schweden Thriller begeistert, durch die flüssige Art wie es geschrieben wurde und durch den nicht abfallenden Spannungsbogen war es ein leichtes lesen.
Leseprobe
TEIL I DEZEMBER
Amelies Herz pochte laut, und ihr Magen krampfte sich vor lauter Nervosität zusammen. Schon während der letzten zehn Unterrichtsminuten war sie angespannt gewesen wie ein Flitzebogen. Als endlich der Gong ertönte, sprang sie von ihrem Stuhl auf und rannte dicht gefolgt von Tuva in den Korridor hinaus. »Ich komm bis zur Bushaltestelle mit!«, rief Tuva. Während die Mädchen auf den Ausgang zuliefen, zogen sie sich ihre Jacken über. Auf der Treppe blieben beide stehen, um die Reißverschlüsse hochzuziehen und sich ihre Mützen aufzusetzen. Draußen war es schon dunkel, und der heftige Wind vom Meer blies ihnen eiskalt ins Gesicht. Obendrein hatte es auch noch angefangen, in Strömen zu regnen. Nur noch zwei Wochen bis Weihnachten und nicht eine Schneeflocke in Sicht. Wie öde!, dachte Amelie. Am liebsten hätte sie kehrtgemacht und wäre wieder zu ihren Klassenkameraden hineingegangen, aber sie müsste erst nach Hause, um ihr Lucia-Gewand und die Kerze zu holen. Ihre Musiklehrerin hatte darauf bestanden, dass sich alle umziehen, damit die letzte Probe vor dem Krippenspiel und der Lucia-Prozession auch echt wirken würde. Generalprobe hatte sie gesagt. Heute Morgen war es zu Hause ziemlich hektisch zugegangen. Wie immer wollte Julien, dieser Morgenmuffel, partout nicht in den Kindergarten. Ihre Mutter hatte beim Anziehen einen regelrechten Kampf mit ihm ausfechten müssen. Deshalb waren sie erst viel zu spät von zu Hause losgekommen und hatten in der Eile die Plastiktüte mit den Lucia-Sachen auf dem Fußboden im Flur vergessen.
Amelie besaß eine eigene Monatskarte, weil sie keine Lust mehr auf den Hort hatte. Mit dem Bus war es von ihrer Schule bis nach Önnaröd, wo sie wohnte, zwar nur eine Station, aber im Dunkeln an der schmalen Landstraße entlangzugehen, war zu gefährlich. Obwohl ihre Stiefel und Jackenärmel mit Reflektoren versehen waren, bestand ihre Mutter darauf, dass sie mit dem Bus fuhr. Tuva hingegen wohnte in der Nähe der Schule, sodass sie keine Monatskarte benötigte. Die Mädchen waren beste Freundinnen und gingen in die dritte Klasse. Amelie würde in zwei Monaten und drei Tagen zehn werden, und sie fand, dass der Hort etwas für Kleinkinder war. Tuva teilte ihre Auffassung, obwohl sie erst am fünften Mai Geburtstag hatte. Jetzt glaubten die Mädchen zu hören, wie der Bus in die Haltestelle einbog. Oder fuhr er etwa schon wieder los? »Ej, warten!«, riefen sie. Sie rannten, so schnell sie konnten, den Hügel hinunter, nur um kurz darauf die roten Rücklichter im Dunkeln verschwinden zu sehen. Der nächste Bus würde erst in zwanzig Minuten kommen. Scheiße auch! Die beiden müssten unbedingt in einer halben Stunde wieder zurück in der Schule sein! Die Mädchen hielten nach dem Wettlauf einen Augenblick an der leeren Bushaltestelle inne, um durchzuschnaufen. Wahrscheinlich wäre es schneller, einfach zu Fuß nach Hause zu laufen, denn das dauerte nur zehn Minuten. Aber dann werde ich klitschnass, dachte Amelie. Im selben Augenblick hörten sie ein vertrautes knatterndes Motorengeräusch. Kristoffer! Tuva und er waren verwandt, auch wenn Amelie nicht genau wusste, wie, aber die beiden hatten schon mehrfach in seinem EPA-Traktor, einem Pick-up-ähnlichen Gefährt, mitfahren dürfen.
Obwohl er ihn selbst A-Traktor wie Arbeitstraktor nannte. EPA-Traktor sagte man früher dazu in Anspielung auf selbst gebaute Billigfahrzeuge. Entschlossen stellte sich Tuva an den Straßenrand und winkte eifrig, als sich das Fahrzeug langsam näherte. Als Kristoffer anhielt, bekam Amelie heftiges Herzklopfen. Er kurbelte die Seitenscheibe herunter und schaute sie beide fragend an. Aus den Lautsprechern seines Autoradios dröhnte Rockabilly-Musik, die im Wartehäuschen der Haltestelle widerhallte. »Hej! Kann Amelie mitfahren? Sie hat den Bus verpasst… darf sie? Bitte, bitte!« Er nickte, und Amelie lief um den Wagen herum zur Beifahrerseite. Bevor sie die Tür öffnete und hineinhüpfte, winkte sie Tuva fröhlich zu. Dann sank sie mit einem Seufzer der Erleichterung auf den weichen Sitz. Weiße Ledersitze, fesch. Dieser EPATraktor, oder besser gesagt A-Traktor, gefiel ihr wirklich gut. Kristoffer war sehr penibel, was die Bezeichnungen von Autos anging. Der Wunderbaum, der vor der Windschutzscheibe baumelte, duftete angenehm. Oder war es vielleicht eher das Haargel, das Kristoffer benutzte, um seine Schmalzlocke in Form zu halten? Elvis-Tolle, nannte Tuva sie. Sie fand seinen Style cool, aber Amelie stand nicht unbedingt drauf. Sie war ein Fan von One Direction, und keiner der Jungs aus der Boygroup trug eine solche Frisur. Kristoffers Kapuzenpulli wies Öl- und Schmutzflecken auf, ebenso wie seine Jeans. Er und sein Vater werkelten viel mit Autos herum, das wusste Amelie. Als sich das Gefährt in Bewegung setzte, winkte sie Tuva noch einmal fröhlich zu. »Wir haben gleich Probe, und da müssen wir unser LuciaGewand tragen. Aber Glitter brauchen wir noch nicht. Erst morgen.
Krippenspiel, du weißt schon. Alle Eltern kommen und schauen es sich an. Tuva und ich nehmen an der Lucia-Prozession teil. Wir singen die ganze Zeit, und die Kleineren aus der ersten und zweiten Klasse sind Schafe und Hirten, und wir sind die Engel und…« Amelie plapperte einfach drauflos. Sie kannte Kristoffer nur flüchtig, weil er Tuvas Cousin zweiten Grades oder so war, und obwohl sie schon öfter in seinem A-Traktor hatten mitfahren dürfen, war Amelie noch nie mit ihm allein gewesen. Immer nur gemeinsam mit Tuva. Aber er verhielt sich genauso wie sonst auch. Vielleicht redete sie nur so viel, weil sie wusste, dass er nicht antworten würde. Er war nämlich ziemlich wortkarg und sagte kaum etwas. Aber er war nett. Schließlich fuhr er sie gerade nach Hause. In der Gewissheit, dass sie es nun pünktlich bis zur Probe schaffen würde, lehnte sie sich bequem auf ihrem Sitz zurück. Genauso quengelig, wie Julien morgens gewesen war, verhielt er sich auch am Nachmittag, als Maria in den Kindergarten kam, um ihn wieder abzuholen. Jetzt wollte er auf keinen Fall nach Hause, weil Malte und er gerade etwas aus Lego zusammenbauten, das nicht bis zum nächsten Tag warten konnte. Maria spürte, wie ihr der Schweiß am Rücken hinunterlief, während sie zunehmend genervt versuchte, dem widerspenstigen Jungen die Jacke überzustreifen. Er war übermüdet und gereizt. Die Trotzphase eines Fünfjährigen lässt grüßen! Allerdings hat Juliens Trotzphase schon bei seiner Geburt angefangen, dachte Maria missmutig. Sie wechselte einen resignierten Blick mit der Erzieherin, die sich zu ihnen in den leeren Flur gesellt hatte. Gemeinsam gelang es ihnen schließlich, dem Jungen Jacke und Stiefel anzuziehen, während er sich vehement weigerte, die Regenhose überzuziehen. Auf dem Weg zum Auto fiel er prompt hin und landete in einer großen Pfütze.
Als seine Jeans klitschnass wurde, begann er erneut zu plärren. »Wir müssen nur noch kurz Amelie abholen, und danach fahren wir geradewegs nach Hause. Dann mach ich uns einen heißen Kakao mit Sahne und tau für jeden von uns eine Zimtschnecke auf. Findest du nicht auch, dass wir uns das nach einem Tag wie diesem verdient haben?« Sie drückte ihm einen Kuss auf die Stirn und hob ihn ins Auto. Beim Anschnallen verhedderte sich wie befürchtet der Gurt am Kindersitz. Was für ein Tag! Erst als Maria schließlich auf den Fahrersitz sank, atmete sie erleichtert aus. Zum Glück dauerte die Fahrt zu Amelies Schule nur ein paar Minuten. Allmählich begann sie sich selbst nach einem Becher heißen Kakao und einer Zimtschnecke zu sehnen. Maria schaute fragend von Tuva zu Therese Jansson, der Musiklehrerin, und wieder zurück. Sie waren nur noch zu dritt in der Aula der Schule, wo das Krippenspiel stattfinden würde. Der erleuchtete Weihnachtsbaum in der Ecke verbreitete einen intensiven Geruch nach Harz. Seine Zweige waren schwer mit dem selbst gebastelten Baumschmuck der Kinder behängt. »Sie ist nicht wieder zurückgekommen?« »Nee. Ich hab es tausendmal versucht. Aber sie geht nicht ans Handy«, antwortete Tuva. »Ich habe auch probiert, sie zu erreichen. Sowohl auf dem Handy als auch unter Ihrer Festnetznummer. Aber ich hatte natürlich alle Hände voll zu tun mit der Probe…« Die Lehrerin setzte eine entschuldigende Miene auf und schluckte befangen. Maria sah, dass ihre Hand leicht zitterte, als sie ihre große Hornbrille auf der Nase nach oben schob. Sie macht sich also auch Sorgen, dachte Maria.
»Amelie ist doch sonst nicht der Typ, der schwänzt«, sagte sie. »Nein, gar nicht. Und sie hat sich wirklich auf das Solo in ›Glanz über See und Ufer‹ gefreut«, pflichtete die Lehrerin ihr bei. »Sonst geht sie immer an ihr Handy«, warf Tuva mit Nachdruck ein. Sie hat recht, Amelie geht immer ran, dachte Maria mit zunehmender Besorgnis. »Tuva, ich fahr dich heim«, sagte sie rasch. »Können Sie mich kurz anrufen, wenn Sie sie gefunden haben? Auch wenn es schon spät sein sollte«, bat die Lehrerin nervös. »Natürlich.« Maria lief schon wieder nach draußen zum Auto. Das Haus und der Garten waren abgesucht. Julien war völlig aufgekratzt überall herumgelaufen und hatte nach seiner Schwester gesucht. Er kannte alle Verstecke, denn Verstecken spielte er am liebsten. Doch er konnte sie nirgends finden. In der Spüle lag eine Bananenschale, und auf der Arbeitsplatte stand ein Glas mit einem Rest Milch darin. Bevor Amelie von zu Hause losging, war sie offensichtlich auf der Toilette gewesen, hatte in der Eile aber vergessen zu spülen. Maria konnte die Plastiktüte mit dem Lucia-Gewand und der kleinen batteriebetriebenen Kerze nirgends finden. Ihre Tochter war also nach Hause gekommen, hatte in der Küche etwas gegessen, die Toilette aufgesucht und sich danach die Plastiktüte gegriffen, bevor sie sich bei dem Sauwetter in der Dunkelheit wieder auf den Weg gemacht hatte. Wo war sie nur abgeblieben? Mechanisch bereitete Maria den heißen Kakao für ihren Sohn zu und taute die versprochene Zimtschnecke in der Mikrowelle auf.
Während er zufrieden anfing zu essen, klemmte sie sich ans Telefon und rief alle Freunde und Bekannten an, bei denen Amelie eventuell aufgetaucht sein könnte. Doch keiner hatte sie gesehen oder etwas von ihr gehört. Maria wählte in regelmäßigen Abständen die Nummer ihres Handys und hörte das Freizeichen, doch niemand meldete sich. Tuva hatte recht, Amelie ging sonst immer ran, denn sie war furchtbar stolz auf ihr neues Handy. Vor lauter Angst schnürte es Maria die Kehle zu. Es dauerte eine Weile, bis sie sich wieder gefasst hatte, um ihre Schwiegermutter anzurufen. Mit zittrigen Händen wählte sie ihre Nummer. Als Maria die ruhige Stimme von Iris Holm hörte, verlor sie die Beherrschung und begann zu weinen. Hauptsächlich aus Erleichterung darüber, Iris zu Hause anzutreffen, die ihr immer eine Stütze gewesen war. Unter Schluchzen informierte Maria sie darüber, dass Amelie verschwunden war. Sie bat Iris, zu kommen und auf Julien aufzupassen, um selbst rausgehen zu können und die Gegend abzusuchen. »Hast du Johannes schon angerufen?«, lautete Iris’ erste Frage, als sie das Haus betrat. »Nein, aber ich hab alle anderen angerufen, bei denen sie eventuell sein könnte. Ich wollte ihn nicht unnötig beunruhigen. Von dort aus, wo er gerade ist, kann er ja sowieso nichts unternehmen«, antwortete Maria. »Das stimmt natürlich… Wenn du sie innerhalb der nächsten Stunde nicht findest, rufen wir die Polizei.« Marias Schwiegermutter besaß sowohl in privaten als auch in beruflichen Zusammenhängen die Fähigkeit, in schwierigen Situationen die Fassung zu wahren und klar zu denken. Sie würde in einem halben Jahr in Rente gehen, arbeitete aber noch immer Vollzeit als Bibliothekarin. Behutsam nahm sie Maria in die Arme und hielt sie fest, ohne noch etwas zu sagen.
Als das Schluchzen der Schwiegertochter nachließ, tätschelte sie ihr sanft die Wange. »Ist ja gut. Und jetzt ab mit dir, damit du Amelie findest«, sagte sie. Kurz darauf lief Maria draußen im strömenden Regen durch die Dunkelheit. Sie trug Regenkleidung und hatte eine starke Taschenlampe bei sich. Mit raschen Schritten ging sie auf der linken Seite die Landstraße entlang und leuchtete dabei mit ihrer Lampe auf den Seitenstreifen und in den Graben hinunter. Durch den zunehmenden Wind kam der Regen inzwischen von vorn, sodass sie kaum etwas erkennen konnte. Maria legte den knappen Kilometer bis zur Schule zurück, ohne etwas Nennenswertes zu entdecken. Unterwegs rief sie ungefähr alle fünf Minuten Amelies Handy an, doch es meldete sich niemand. Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Sie blieb stehen und suchte auf ihrem Handy nach einem aktuellen Foto von ihrer Tochter. Schließlich fand sie eines von einer lächelnden Amelie mit fröhlich leuchtenden Augen und einer neuen Haarspange, die ihren Pony seitlich fixierte. Das süße Foto ihrer Tochter brachte sie erneut zum Weinen, und ihre Tränen mischten sich mit den Regentropfen, die ihr ins Gesicht peitschten. Mit zitternden Fingern postete sie das Foto auf Facebook mit der Bitte an alle, von sich hören zu lassen, die das Mädchen auf dem Foto am heutigen Tag nach fünfzehn Uhr gesehen hatten. Auf dem Rückweg kam sie am Recyclinghof vorbei, der ungefähr zweihundert Meter von der Bushaltestelle entfernt lag. Mechanisch klickte sie Amelies Namen auf dem Display an und wartete mit klopfendem Herzen aufs Freizeichen. Lieber Gott, bitte mach, dass sie rangeht! Lieber Gott… Als sie plötzlich aus dem Inneren eines Müllcontainers ganz leise den Refrain von Jingle Bells dudeln hörte, unterbrach sie abrupt ihre innigen Gebete.
Diesen Klingelton hatte Amelie erst ein paar Wochen zuvor heruntergeladen, um sich selbst und ihre Umwelt daran zu erinnern, dass bald Weihnachten war. »Amelie! Amelie! Wo bist du?« Ihre Stimme brach, während sie rief. Mit laut pochendem Herzen lief sie auf die aufgereihten Container zu. Nur wenige Sekunden später hatte sie die Weihnachtsmelodie lokalisiert; sie kam aus dem ersten Container. Da die Öffnung zu klein war, um den Kopf hineinstecken zu können, leuchtete sie mit ihrer Taschenlampe hinein. Offensichtlich war der Behälter gerade erst geleert worden, denn sie konnte darin keinen Müll entdecken, doch jetzt hörte sie den beharrlichen Klingelton ganz deutlich. Obwohl sie realisierte, dass das Mädchen keinesfalls im Müllbehälter sein konnte, rief sie durch die Öffnung: »Amelie! Amelie!« Zur Antwort erhielt sie nur das Echo ihrer eigenen Stimme, das sich mit dem synthetischen Klang des Klingeltons mischte. Maria hob den Kopf und versuchte nachzudenken. Sie drückte auf die Stopptaste ihres eigenen Handys, um das schreckliche Gedudel zu beenden. Dann tippte sie unbeholfen die 112 ein. Als eine junge weibliche Stimme ihr erklärte, dass sie den Notruf gewählt hatte, fühlten sich ihre Stimmbänder wie verknotet an. »Amelie… meine Tochter… ist verschwunden!«, gelang es ihr schließlich hervorzubringen. »Wie alt ist das Mädchen?« »Neun…« »Und wie lange ist sie schon verschwunden?« Vergeblich versuchte Maria es im Kopf nachzurechnen, doch sie konnte sich einfach nicht konzentrieren.
»Sie ist kurz von der Schule nach Hause gegangen, um ein paar Sachen zu holen… dort wollten sie gerade ein Krippenspiel einstudieren… aber sie kam nicht wieder!« »Wie spät war es da?« »Drei… drei Uhr.« »Also fast vier Stunden. Haben Sie schon bei Freunden und Nachbarn angerufen?« »Ja! Bei allen! Und wir haben auch das Haus… und den Garten… und die nähere Umgebung abgesucht. Ich bin gerade die Strecke von unserem Haus bis zur Schule abgegangen. Mit einer Taschenlampe. Und…« »Wie lang ist diese Strecke?« »Einen knappen Kilometer. Und jetzt stehe ich auf dem Recyclinghof. Als ich ihre Nummer gewählt habe… hörte ich plötzlich den Klingelton ihres Handys. Er kam aus einem der Müllcontainer!« Die letzten Worte schrie sie unfreiwillig heraus. Am anderen Ende wurde es für ein paar Sekunden still, bevor die ruhige Stimme wiederkehrte. »Wie heißen Sie?« »Maria Holm.« »Und wo genau befinden Sie sich gerade?« »Beim Wertstoffhof… Recyclinghof, oder wie es heißt… zwischen Önnaröd und Mällby.« »Die nächste Stadt?« »Strömstad.« »Wie weit entfernt von Strömstad befinden Sie sich?« »Direkt nördlich von… zwei Kilometer.« »Ich schicke eine Streife. Bleiben Sie dort.«
Nach zehn Minuten kam eine Polizeistreife. Die beiden Beamten baten Maria, ihnen das Foto von Amelie zu zeigen und ihre Kleidung zu beschreiben: rote Daunenjacke, weiße Mütze, blaue Handschuhe, Jeans und blaue Stiefel. Einer der Beamten stellte sich als Polizeimeister Patrik Lind vor. Er war etwas über zwanzig und wirkte durchtrainiert, zugleich aber leicht übergewichtig. Da er nicht besonders groß war, und seine Uniformjacke am Rücken bedenklich spannte, machte er einen leicht gedrungenen Eindruck. Er betrachtete das Foto eingehend, bevor er sagte: »Sie haben keine Drohungen oder dergleichen erhalten? Das Kind ist ja ziemlich dunkelhäutig.« Maria starrte ihn verständnislos an, bevor ihr aufging, was er meinte. »Ja, ich bin in Guadeloupe… in der Karibik geboren worden. Aber mein Mann kommt aus Strömstad und ist Schwede. Ich wohne schon seit zehn Jahren hier, bin aber nur sehr selten wegen meiner Hautfarbe diskriminiert worden. Und Amelie hat auch nichts dergleichen erwähnt.« »Ich dachte nur, dass es sich vielleicht um eine rassistische Tat handeln könnte«, entgegnete der junge Polizist. Er linste zu seiner Kollegin rüber, die einen halben Kopf größer war als er und deren pechschwarze Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden waren. Maria fiel es nicht ganz leicht, den Ausdruck in ihren dunklen mandelförmigen Augen zu deuten, als er das Wort »rassistisch« aussprach. Patrik Lind hingegen wusste, dass Alice Åslund aus China stammte und adoptiert worden war. Seit einem Jahr lebte sie mit einer etwas älteren Frau zusammen auf einem Reiterhof außerhalb von Fjällbacka. Mit ihrem deutlich asiatischen Aussehen und ihrer sexuellen Orientierung war Alice der Begriff »Rassismus« ganz sicher in all seinen Schattierungen bekannt.
Nachdem er das Foto zuerst an sein eigenes Handy und dann an das seiner Kollegen geschickt hatte, gab er Maria das Handy zurück. Dann ging er wankenden Schrittes mit seitlich leicht abstehenden Armen zurück zum Wagen und ließ sich schwer auf den Beifahrersitz sinken. Bevor die beiden wieder fuhren, gelang es Patrik Lind, Kontakt mit dem Chef der Betreiberfirma des Recyclinghofs aufzunehmen, und nachdem er ihm seinen spätabendlichen Anruf plausibel erklärt hatte, versprach dieser, umgehend jemanden zu schicken, um den Container zu öffnen. »Wir fahren los und suchen nach ihr«, sagte Patrik Lind durch die heruntergelassene Seitenscheibe. Dann schloss er sie rasch wieder, um nicht völlig vom Regen durchnässt zu werden. Polizeimeisterin Åslund saß bereits am Steuer. Mit einem Kavalierstart bog sie auf die Landstraße ein, um die Suche nach dem Mädchen einzuleiten. Maria stand bereits seit einer halben Stunde allein in der Dunkelheit im Regen und zitterte vor Kälte und Sorge, traute sich aber nicht, das Gelände zu verlassen. In gewisser Weise erschien es ihr wichtig, über die einzige Spur zu wachen, die sie von ihrer Tochter hatte auftreiben können. Als der Mann von der Recyclingfirma endlich auftauchte, bog auch der Polizeiwagen erneut aufs Gelände ein. Doch Patrik Lind und Alice Åslund konnten Maria nur den deprimierenden Bescheid überbringen, dass sie nicht die geringste Spur von ihrer Tochter aufgetan hatten, aber immerhin teilten sie ihr mit, dass eine weitere Streife zur Unterstützung der Suche unterwegs war. Der Mann von der Recyclingfirma öffnete den Container, aus dem der Klingelton von Amelies Handy gedrungen war, und erblickte auf dem Boden des fast leeren Behälters ein Handy. Daraufhin sprang Alice Åslund hinein, um das Gerät vorsichtig in eine Papiertüte zu befördern. Maria identifizierte das Telefon mit dem rosafarbenen Etui, auf dem ein paar Katzenbabys abgebildet waren, als Amelies.
Im Lauf des Abends wurde eine umfangreiche Suchaktion eingeleitet, bei der sowohl die Polizei als auch das Militär involviert waren. Zusätzlich nahmen auch mehrere Freiwillige teil, die Marias Bitte auf Facebook gelesen hatten. In den frühen Morgenstunden stieg ein Hubschrauber mit Wärmebildkamera auf und begann das Gebiet abzusuchen. Die Einsatzleitung hatte Maria versprochen, dass er so lange in der Luft bleiben würde, bis sie das Mädchen gefunden hätten.