Klippen Grab
Der ehemalige Polizist Simon Jenkins genießt sein ruhiges Leben im beschaulichen Küstenort Cadgwith. Die rauen Klippen und die tosenden Wellen lassen den passionierten Maler die schmerzhaften Erinnerungen an seine Vergangenheit vergessen. Als jedoch eine Frau plötzlich verschwindet und zur gleichen Zeit im Nachbarort eine weibliche Leiche gefunden wird, deren Identität nicht festgestellt werden kann, erwacht sein Instinkt. Handelt es sich um dieselbe Frau oder gibt es eine Verbindung zwischen den zwei Fällen? Und was hat es mit dem mysteriösen Filmemacher auf sich, der zu viel wissen will? Jenkins kann nicht anders, als erneut zu ermitteln …
Klippen Grab ist der zweite Band um Simon Jenkins.
Simon und seine Bilder sind sehr beliebt in dem Küstenort. Auch fühlt sich Simon recht wohl als Künstler. Doch dann wird eine junge Frau vermisst und im Nachbarort eine Frau tot aufgefunden und schon hat er seinen Polizei Instinkt wieder. Aber er weigert sich zu ermitteln und sich einzumischen, selbst als der Kommissar Marks ihn um Hilfe bittet. Doch dann taucht ein Name in den Ermittlungsakten auf den Simon wieder in die Vergangenheit versetzt und nun doch ermitteln will.
Was ist das für ein Name? Holt ihn doch seine Vergangenheit wieder ein?
Es wird aufjedenfall Spannend.
Leseprobe
Die Luft flirrte. Das Auto stand am Rand der schmalen Straße, die Scheiben heruntergelassen. Er blieb stehen und sah hinein. Auf dem Rücksitz bemerkte er zwischen zerlesenen Zeitschriften eine leere Mineralwasserflasche. Der Wagen stand da, als habe ihn die Fahrt hierher erschöpft. Nein, er stand dort wie tot. Jede Bewegung war zu viel. Simon Jenkins wandte langsam den Blick ab. Er wusste nicht genau, was ihn erwartete. In die dichte Weißdornhecke gegenüber war eine breite Einfahrt geschnitten. Er zögerte kurz und überquerte dann die Straße. Als er den breiten Hof betrat, stieß er auf scheinbar wahllos abgestellte Kisten und Kästen, unterschiedlich groß. Die meisten von ihnen enthielten Metallschrott in allen denkbaren Formen. Zwischen den Behältern wucherten Gras und andere Pflanzen. Er blieb nahe des Zugangs stehen und nahm jedes Detail in sich auf. Rechts neben dem Haus lehnten weiße Säcke mit blauem Aufdruck an den Resten einer Feldhaubitze. Der graue Putz des eingeschossigen Baus wurde nahezu vollständig von Efeuranken verdeckt. Vor der Tür standen zwei verwaiste Plastikstühle. Von dort waren es nur wenige Schritte bis zu einem Seecontainer.
Seine Flügeltür stand weit offen. Links von sich erkannte er in dem Durcheinander ein dünnbeiniges Metallgestell. Vorsichtig bahnte sich Jenkins seinen Weg an dem geschweißten Rahmen vorbei. Er bemerkte an der oberen Querstange Hängevorrichtungen, die aussahen wie die soliden Haken in einer Metzgerei. Über dem Hof lag der Geruch aus altem Öl, Rost und Hitze. Es war immer noch früher Nachmittag. Der Himmel über dem Lizard war von einem intensiven monochromen Blau, wie so oft zu dieser Jahreszeit. Aber er spürte, dass heute etwas anders war. Sein Blick wanderte vom Himmel zurück zum Seecontainer – ein Wal aus Stahlblech, der mit offenem Maul stumm und gefräßig auf den nächsten Fang wartete. Dann wusste Jenkins, was ihn störte. Es war die Stille. Das Leben fehlte. Keine Zikaden, kein Rotkehlchen, das in der Hecke raschelte, kein Zwitschern der Feldlärchen, die üblicherweise um diese Tageszeit über den Feldern standen. Diese Ruhe war ebenso beklemmend wie die Sommerhitze. Die Anstrengung der letzten Stunde hatte ihn abgelenkt. Er hätte mehr trinken sollen, denn nun hatte er Durst und schwitzte. Er verdrängte den Gedanken und nahm weiter jedes Detail, jede Kleinigkeit in sich auf – eine Routine, die sich über Jahre an zahlreichen Tatorten eingeschliffen hatte und doch jedes Mal neu war. Als er den Fuß in den Seecontainer setzte, fielen ihm zuerst ihre Augen auf: groß, weit aufgerissen, der Blick starr nach vorne gerichtet, so als habe sie gerade erst in einen furchterregenden Abgrund geschaut.
Auffällig war auch die Nase. Sie war kräftig, mit breitem Rücken, aber gerade. Die anmutig geschwungenen Lippen waren für seinen Geschmack eine Spur zu grell geschminkt. Um den Hals trug sie eine dreireihige Kette aus dicken Perlen. Den Kopf schmückte eine Art Krone oder Diadem. Das etwas plump wirkende Schmuckstück hielt ein weißes Tuch, das die braunen Locken weitgehend bedeckte. Dem Körper fehlten die Unterarme, die Beine waren nicht mehr als Stümpfe. Der Torso war in ein Kleid gehüllt, das im Unbestimmten endete. Weiße Rüschen am grünen, mit gezackten Goldstreifen verzierten Oberteil bedeckten züchtig den Ausschnitt des leblosen Körpers. Das Kleid war im unteren Bereich dunkelblau. Die Frau war mittleren Alters und machte einen kräftigen Eindruck, trotz ihrer sichtbaren Verstümmelung. Der Torso stand aufrecht, ein wenig vorgebeugt. Die ungewöhnliche Haltung wurde durch einen breiten Gurt gesichert, der an der Innenwand des Containers befestigt war. Jenkins ließ die Szene auf sich wirken und stützte sich dabei mit beiden Händen auf seinen Gehstock. Der Anblick ließ in ihm eine geradezu absurde Vorstellung aufkommen. Der Torso wirkte, als sei in der Anordnung des Körpers ein Moment des Aufbruchs eingefroren. Er hatte erst vor knapp einer Stunde den Tipp bekommen und sich umgehend zu Fuß auf den Weg gemacht. Da die Zeit drängte, hatte er nicht auf Luke und seinen Pick-up warten wollen.
Die Wegstrecke zwischen seinem Cottage, das nicht ganz in der Mitte des Dorfes lag, und diesem Hof an der Straße nach Lizard war unerwartet anstrengend gewesen. Er hatte wieder einmal vergessen, dass die Straße stetig anstieg. Zum Glück hatte er bei seinem Aufbruch an die Medikamente gedacht und seine mittägliche Dosis eingenommen. Daher war er nun zumindest frei von Schmerzen. Seit fast vier Wochen hatte sein Leben eine andere Qualität. Sein Neurologe hatte ihm endlich Tabletten mit einem anderen Wirkstoff verschrieben, und die waren deutlich effektiver als die bisherigen Schmerzmittel. Jenkins ließ den Blick auf dem Gesicht der Frau ruhen. Ihre fast schwarzen Augen ließen ihn nicht los. Darin lagen Schmerz, unerfüllte Sehnsucht und Erfahrung. Ihr Blick und die markanten Gesichtszüge erinnerten ihn an jemanden. So sehr er sich auch konzentrierte, er kam nicht darauf. Langsam umrundete er den Torso. Er würde schon noch auf den Namen kommen. Ein Geräusch ließ ihn herumfahren. »Oh, du bist tatsächlich früh dran.« Hinter ihm stand eine schlanke Frau mittleren Alters in ausgewaschenen Jeans und heller Bluse. In der einen Hand hielt sie einen Becher Tee und in der anderen eine Zigarette. »Ich hoffe, ich habe dich nicht zu sehr erschreckt.« Sie grüßte mit dem Becher in seine Richtung und warf mit einem entschuldigenden Lächeln ihr dunkelblondes Haar zurück. »Hallo. Nein, Sarah. Ich wollte mir die Figuren in aller Ruhe anschauen, bevor hier gleich die Menschen Horden einfallen.« Er lächelte zurück. Er kannte Sarah Stephens seit seinem Umzug nach Cadgwith.
Sie arbeitete wie er als Künstlerin und war mit einem Partner seit Monaten mit der Restaurierung der Galionsfiguren beschäftigt gewesen. »Die gute Kalliope. Ist sie nicht schön?« Sarah trank einen kräftigen Schluck und trat näher. Als sähe sie sie zum ersten Mal, ruhte ihr Blick bewundernd auf der Figur. »Wir sind tatsächlich eben erst mit unserer Arbeit fertig geworden.« Sie hob die Schultern, so als müsse sie sich bei Jenkins erneut entschuldigen. »Ihr habt wirklich Großartiges vollbracht.« Er deutete eine Verbeugung an. Dem mächtigen Torso sah man die Witterungseinflüsse durch die Jahrhunderte und die Zerstörungen durch Holzwurmfraß kaum noch an. Die Konturen ließen wieder das Werkzeug des Schnitzers erahnen. Die Farben waren frisch und kräftig und hatten dennoch nicht den kitschigen Touch von Jahrmarktfiguren. Jenkins wandte sich ab, denn in diesem Augenblick trat ein Mann aus dem Haus. Er war groß und hatte eine kräftige Statur. Auch er trug einen Becher Tee mit sich. Gelassen lächelnd hob er die freie Hand. »Ian Henn kennst du ja.« Sie zog an ihrer Zigarette und schüttelte den Kopf. »Horden? Keine Ahnung, was uns gleich erwartet.« Sie drehte Jenkins für einen Augen[1]blick keck ihr Hinterteil zu. In einer Gesäßtasche steckte ein Notizheft. »Ich habe mir ein paar Notizen gemacht. Die Leute werden sicher eine Menge Fragen haben.« Jenkins nickte. »Kalliope also?«
»Yep.« Sarah musterte ihn wie die Geschichtslehrerin ihren Schüler und drückte dann burschikos die Zigarette an ihrer Schuhsohle aus. »Du kennst dich sicher ein bisschen aus in der griechischen Mythologie?« Sie grinste breit, denn sie kannte die Antwort. »Nicht wirklich, um ehrlich zu sein.« Die Malerin zückte nachsichtig ihr Notizbuch und schlug es auf. »Also. Kalliope ist eine der, Moment, neun Töchter des Zeus.« Sie legte den Zeigefinger auf die Stelle in ihren Aufzeichnungen. »Sie ist die Muse unter anderem der Wissenschaft, des Saitenspiels und des Epos. Madame gilt als die weiseste der neun Musen.« Sie schaute auf. »So, aha.« »Hab ich mir jedenfalls so notiert.« Sie bemerkte Jenkins’ zweifelnden Blick und lächelte erneut. »Guck dich doch noch ein wenig um, noch hast du sie für dich allein. Wie du siehst, haben wir noch andere Galionsfiguren im Angebot. Wie wäre es mit unserem stolzen bärtigen Zentauren hier? Geschaffen im Jahr 1842. Ich finde besonders seine Körperhaltung bemerkenswert«, dozierte sie. »Die rechte Hand ruht auf seinem pferdeartigen Unterkörper, die linke geballte Faust auf der Stirn. Oder im anderen Container unsere Aurora. Ich liebe sie. Da ist dann noch der König von Theben, 1855 geschnitzt für die HMS Cadmus. Der Rest ist aber auch nicht ohne. Insgesamt sind es vierzehn.« In ihrer Stimme lag nun der ganze Stolz einer Museumsführerin, die über die Jahre mit dem Objekt ihrer Leidenschaft verschmolzen war. Jenkins hob eine Augenbraue.
»Wir haben hier natürlich nicht alle vierzehn Figuren restauriert. Es haben mehrere Teams an ihrer Wiederherstellung gearbeitet.« Sie fuhr mit der Hand prüfend über den hölzernen Körper des Zentauren. »Es hat eine Weile gedauert, bis ich die richtigen Farbtöne gefunden habe. Aber nun ist er wieder so schön wie zu seiner Jungfernfahrt.« »Und warum hat man ausgerechnet Kalliope als Galionsfigur genommen?« Jenkins’ Interesse war geweckt. »Die Muse des Saitenspiels?« Er musste lächeln. »Man nahm an, dass die mythologische Bedeutung der Figuren auf das jeweilige Schiff selbst überging. Sie waren sozusagen die Seele des Schiffs.« Sie hob ihr Notizheft. »Ich habe es extra aufgeschrieben. Man nimmt an, dass etwa zweihundert Figuren die Zeiten überdauert haben. Es galt als schlechtes Karma, sie zu zerstören, wenn die Schiffe ihren Dienst getan hatten und abgewrackt wurden. Es gab diese Figuren massenweise. Sie landeten unter anderem auf Marinestützpunkten, Piers, in Parks. Da auch unsere hier über so viele Jahre Wind und Wetter trotzen mussten, waren sie in einem erbärmlichen Zustand, als wir sie bekommen haben. Sie waren von innen weitgehend verrottet und wurden nur noch durch die Farbe zusammengehalten. Jeder einzelne Torso musste erst vorsichtig von innen ausgehöhlt und anschließend aufwändig stabilisiert werden. Dieser technische Teil war Ians Job. Hat er großartig gemacht.« Sie nickte Ian zu, der ihr Lob, bis auf ein verlegenes Lächeln, unkommentiert ließ. Er nippte stattdessen an seinem Tee.