Liebe mich,Töte mich ***WERBUNG**
Der Mörder hinterlässt grausame Botschaften. Und du weißt, sie gelten dir.
Vor vierzehn Jahren kehrte Geos beste Freundin Angela nach einer Party nicht nach Hause zurück. Nun wird ihre zerstückelte Leiche gefunden. Für die Polizei ist schnell klar: Angela ist das Opfer des berüchtigten Serienmörders Calvin James. Doch für Geo ist Calvin nicht nur ein Serienmörder. Für sie ist er ihre erste große Liebe. Seit vierzehn Jahren weiß sie, was in dieser einen Nacht geschah, und vierzehn Jahre lang hat sie niemandem davon erzählt. Doch dann werden weitere Frauen ermordet, auf dieselbe Weise wie damals Angela. Der Mörder hinterlässt am Tatort eindeutige Botschaften. Und diese Botschaften gelten Geo ...
Das Buch ist ein Thriller durch und durch es wird nichts verschönigt und genau so beschrieben wie es passiert ist, also wirklich nichts für schwache Nerven.
Es gibt im Buch immer wieder Rückblenden was genau in der Vergangenheit passiert ist so dass keine Fragen aufkommen. Die Geschichte wird Hauptsächlich aus der Sicht von Geo und Kaiser erzählt.
Auch die Personen sind super toll geschrieben, bei einigen merkt man das eine Wandlung im Charakter geschehen ist und bei manchen scheint die Zeit still zu stehen.
Auch das Ende ist nicht so schnell vorhersehbar was ich toll finde es gibt zum Ende noch die ein oder andere Wende. Aber so ist es auch in den Kapiteln teilweise wird man immer wieder zum umdenken bewogen und hat so manchmal auch den Ohhhhh Effekt.
Das ist mal wieder ein Thriller nach meinem Geschmack wo das Ende nicht schon frühzeitig klar ist aber auch was ein Thriller aus macht die Spannung bleibt bis wirklich zum Schluss aufrecht gehalten.
Leseprobe
Teil eins Verleugnung
1
Der Prozess wurde von der Presse nur am Rande erwähnt. Das ist gut, denn es bedeutet weniger öffentliche Aufmerksamkeit und weniger Journalisten. Gleichzeitig ist es auch schlecht, denn man fragt sich doch, wie scheußlich ein Verbrechen heutzutage sein muss, um es in die Schlagzeilen zu schaffen. Verdammt scheußlich, wie’s aussieht. In der New York Times und auf CNN wird Calvin James – auch bekannt als der Sweetbay-Würger – nur kurz erwähnt, und für die Zeitschrift People oder die Sendung The View sind seine Verbrechen nicht sensationell genug. Aber für die Menschen oben im Nordwesten, in Washington, Idaho und Oregon, ist der Prozess gegen den Sweetbay-Würger eine Riesensache. Das Verschwinden von Angela Wong vor vierzehn Jahren hatte in der Gegend um Seattle ziemlich viel Aufsehen erregt, denn Angelas Vater ist ein hohes Tier bei Microsoft und ein Freund von Bill Gates. Suchtrupps wurden zusammengestellt und alle möglichen Leute befragt, die ausgesetzte Belohnung stieg mit jedem Tag an, den Angela verschwunden blieb. Als die Leiche der Sechzehnjährigen so viele Jahre später entdeckt wurde – nur einen knappen Kilometer von ihrem Elternhaus entfernt –, löste das Schockwellen in der Gemeinde aus.
Daran erinnern sich die Leute. Der #GerechtigkeitfürAngela machte heute Morgen auf Twitter die Runde. Er stand zwar nur ungefähr drei Stunden lang an neunter oder zehnter Stelle der beliebtesten Hashtags, aber immerhin. Angelas Eltern sind im Gerichtssaal anwesend. Sie haben sich ein Jahr nach dem Verschwinden ihrer Tochter scheiden lassen. Ihre Ehe, die schon zuvor jahrelang nur noch an einem seidenen Faden hing, hat den Schicksalsschlag nicht überstanden. Jetzt sitzen sie wenige Reihen hinter dem Staatsanwalt nebeneinander, mit ihren jeweiligen neuen Ehepartnern, vereint in der Trauer und dem Wunsch nach Gerechtigkeit. Georgina Shaw kann sich nicht dazu überwinden, Blickkontakt mit ihnen aufzunehmen. Ihre Gesichter zu sehen, die Trauer und die Wut darin, ist das Schlimmste an der ganzen Sache. Sie hätte ihnen vierzehn Jahre schlaflose Nächte ersparen können. Sie hätte ihnen an dem Abend, an dem es passiert ist, alles erzählen können. Geo hätte alles Mögliche tun können. Vor vierzehn Jahren war Angelas Mutter eine oberflächliche, materialistisch eingestellte Frau, der ihr Status im Country Club mehr am Herzen lag als ihre heranwachsende Tochter. Ihr Vater war auch nicht viel besser, ein Workaholic, der am Wochenende lieber Golf und Poker spielte, als Zeit mit seiner Familie zu verbringen. Bis Angela verschwand. Da taten sie sich zusammen, nur um sich dann zu trennen. Sie reagierten auf Angelas Verschwinden, wie es alle normalen Eltern getan hätten, die ihr Kind liebten.
Sie wurden verletzlich. Sie wurden emotional. Geo erkennt Candace Wong, heute Candace Platten, kaum noch wieder. Diese Frau, die einmal extrem dünn war, hat fast zehn Kilo zugenommen, wodurch sie jedoch gesünder wirkt. Victor Wong sieht, bis auf einen leichten Bauchansatz und eine Halbglatze, genauso aus wie früher. Geo hat einen großen Teil ihrer Kindheit bei Angela zu Hause verbracht, hat mit Angela in der Küche Pizza gegessen und bei ihr übernachtet, wenn ihr Vater mal wieder Nachtschicht in der Notaufnahme hatte. Sie hat die Wongs getröstet, als ihr einziges Kind nicht nach Hause kam, ihnen versichert, ihre Tochter würde bestimmt gefunden, sie hat ihnen Antworten gegeben, die sie beruhigten, die jedoch nichts mit der Wahrheit zu tun hatten. Die Wongs wurden zur Abschlussfeier an der Highschool eingeladen, man überreichte ihnen eine Ehrung für Angela, die Captain bei den Cheerleadern, der Star des Volleyballteams und eine hervorragende Schülerin gewesen war. Und seitdem hat Candace Wong Platten Geo jedes Jahr eine Weihnachtskarte geschickt, egal, wo auf der Welt sie sich gerade aufhielt. Ein Dutzend Karten sind es, alle mit denselben Worten unterschrieben: Alles Liebe, Angies Mom. Jetzt hassen sie Geo. Seit sie den Gerichtssaal betreten hat, starren Angelas Eltern Geo an. Und seit sie im Zeugenstand Platz genommen hat, sind auch die Blicke der Geschworenen auf sie gerichtet. Geo ist auf die Fragen vorbereitet, und sie beantwortet sie genauso, wie sie es geübt hat, den Blick auf eine Stelle an der hinteren Wand des Gerichtssaals geheftet.
Der stellvertretende Bezirksstaatsanwalt hat sie gut instruiert, fast könnte man meinen, sie wäre nur hier, um Aufschluss zu geben über die Ereignisse jener Nacht, um ein bisschen Leben und Farbe in den Prozess zu bringen. Abgesehen davon ist der Fall eine todsichere Sache. Die Staatsanwaltschaft hat mehr als genug Beweise, um Calvin James für drei Morde zu verurteilen, die er lange nach dem Mord an Angela begangen hat. Doch Geo ist nur hier, um darüber zu sprechen, was in der Nacht passiert ist, als ihre beste Freundin starb. Es ist der einzige der Morde, in den sie verwickelt ist, und nachdem sie ihre Aussage gemacht hat, wird man sie ins Hazelwood Correctional Institute bringen, wo sie ihre fünfjährige Haftstrafe antreten wird. Fünf Jahre. Es ist ein Albtraum und zugleich ein Geschenk, das Ergebnis einer raffinierten, von ihrem eleganten, teuren Anwalt eingefädelten gerichtlichen Einigung und der Not des Staatsanwalts, der unter enormem Druck stand, den Sweetbay-Würger hinter Schloss und Riegel zu bringen. Die Öffentlichkeit fordert die Todesstrafe für den Serienmörder, aber die wird es nicht geben. Nicht in einer so liberalen Stadt wie Seattle. Die Staatsanwaltschaft hat jedoch gute Chancen, lebenslänglich für Calvin James durchzubekommen. Im Vergleich dazu sind laut einigen Kommentaren in den sozialen Medien zu #JusticeForAngela Geos fünf Jahre ein Witz. Geo wird immer noch jung sein, wenn sie freikommt, jung genug, um ein neues Leben zu beginnen. Sie kann immer noch heiraten und Kinder bekommen. Sie wird immer noch eine Zukunft haben. Theoretisch zumindest.
Sie riskiert einen Blick auf Andrew, der stoisch neben ihrem Vater in der drittletzten Reihe sitzt. Seinetwegen sieht sie heute so gut aus; er hat ihr am Vormittag ihr Lieblingskleid von Dior und ihre Louboutin-Pumps bringen lassen. Ihre Blicke begegnen sich. Andrew deutet ein aufmunterndes Lächeln an, das sie ein bisschen tröstet, auch wenn sie weiß, dass es nicht lange halten wird. Ihr Verlobter weiß nicht, was sie getan hat. Aber er wird es bald erfahren. Geo betrachtet ihre Hände, die sie auf ihrem Schoß gefaltet hat. Ihren Verlobungsring mit dem dreikarätigen, ovalen Diamanten, eingefasst von winzigen Brillanten, trägt sie noch am Finger. Vorerst. Andrew Shipp hat Geschmack. Das gehört eben dazu, wenn man eine gute Erziehung genossen hat, einen wichtigen Familiennamen trägt und ein dickes Bankkonto besitzt. Wenn er die Verlobung löst – was er natürlich tun wird, denn das Einzige, was ihm noch wichtiger ist als Geo, ist die Firma seiner Eltern –, wird sie ihm den Ring zurückgeben. Natürlich wird sie das tun. Weil es das einzig Richtige ist. Eine Staffelei mit einem Foto von Angela in der Größe eines Posters ist zu den Geschworenen hin ausgerichtet. Geo erinnert sich an den Tag, an dem das Foto aufgenommen wurde, wenige Wochen, nachdem sie an der St. Martin’s Highschool in die elfte Klasse gekommen waren. Es ist ein vergrößerter Ausschnitt aus einem Foto, von dem auch Geo einen Abzug besitzt. Darauf sieht man die beiden besten Freundinnen nebeneinander auf der Puyallup Fair (die inzwischen in Washington State Fair umbenannt wurde), Geo mit einem blauen Bausch Zuckerwatte, Angela mit einem Eis in der Hand, das in der Sommerwärme schmilzt.
Auf dem Ausschnitt lacht Angela in die Kamera, ihre Haare glänzen im Sonnenlicht, ihre braunen Augen leuchten. Ein hübsches Mädchen an einem schönen Tag, ein Mädchen, dem die Welt zu Füßen liegt. Gleich daneben, auf einer zweiten Staffelei, befindet sich ein Foto von Angelas sterblichen Überresten, die im Wald hinter Geos Elternhaus gefunden wurden. Nur ein Haufen Knochen in einem Erdloch, man hat schon wesentlich Schlimmeres im Fernsehen gesehen. Der einzige Unterschied ist, dass diese Knochen echt sind und einem Mädchen gehören, das viel zu jung gestorben ist und auf eine unvorstellbar brutale Weise. Der Staatsanwalt stellt weiter seine Fragen und entwirft ein Bild von Angela Wong für die Geschworenen, quasi durch Geos Augen. Sie beantwortet die Fragen, ohne unnötige Einzelheiten hinzuzufügen. Ihre Stimme ertönt aus den Lautsprecherboxen, und sie klingt ruhiger, als Geo sich fühlt. Ihre tiefe Trauer, die sie seit dem Mord an Angela Tag für Tag begleitet, scheint zu verblassen, hinter dem Bemühen, klar und deutlich zu sprechen. Calvin beobachtet sie vom Tisch der Verteidigung aus, sein Blick durchdringt sie regelrecht. Es ist, als würde er sie noch einmal vergewaltigen. Geo erzählt dem Gericht von ihrer Beziehung, sie waren einmal ein Paar, damals, als er noch Calvin war und nicht der Sweetbay-Würger, als sie sechzehn war und glaubte, sie würden sich lieben. Sie berichtet davon, wie er sie misshandelt hat, sowohl verbal als auch körperlich, beschreibt den faszinierten Zuhörern im Gerichtssaal Calvins Besessenheit, seinen Kontrollzwang
Sie schildert ihre Angst und ihre Verwirrung, erzählt Dinge, über die sie noch nie vorher gesprochen hat, nicht mal mit Angela und erst recht nicht mit ihrem Vater. Dinge, die sie jahrelang verdrängt hat, tief vergraben in einer Ecke ihrer Erinnerung, an die sie sich nie herangetraut hat. Geo ist eine Meisterin darin, ihr Leben in verschiedene Bereiche zu gliedern. »Als Sie Jahre später die Berichte in den Nachrichten gesehen haben, haben Sie da schon geahnt, dass Calvin James der Sweetbay-Würger war?«, fragt der Staatsanwalt. Geo schüttelt den Kopf. »Ich hab mir die Nachrichten nie angesehen. Mein Vater hatte mir zwar davon erzählt, er wohnt ja immer noch in Sweetbay, aber den Zusammenhang hab ich nicht hergestellt. Ich hab das irgendwie gar nicht mitgekriegt.« Das stimmt tatsächlich, und als sie zu Calvin hinüberschaut, zeigen seine Mundwinkel fast unmerklich nach oben. Ein winziges Lächeln. Ihr Ex-Freund sah mit einundzwanzig gut aus, das konnte niemand bestreiten. Aber jetzt, mit fünfunddreißig, sieht er aus wie ein Filmstar. Sein Gesicht ist kantiger, von verführerisch zerzausten Locken umrahmt wie das von McDreamy aus Grey’s Anatomy; die leicht angegrauten Schläfen und die Fältchen um seine Augen tragen nur zu seiner Attraktivität bei. Er sitzt entspannt da, bekleidet mit einem schlichten Anzug und einer dezenten Krawatte, und macht sich Notizen auf einem gelben Block. Das winzige Lächeln umspielt seine Lippen schon seit sie den Gerichtssaal betreten hat.
Vermutlich ist sie jedoch die Einzige, die es sieht. Vermutlich gilt es ihr. Als ihre Blicke sich begegnen, geht ein Kribbeln durch Geos Körper. Dieses verdammte Kribbeln, selbst jetzt noch, nach allem, was passiert ist. Vom ersten Tag an, von ihrer ersten Begegnung an, bis zu dem Tag, an dem sie ihn zum letzten Mal gesehen hat, war dieses Kribbeln immer da. So etwas hat sie weder vorher noch nachher jemals empfunden. Nicht mal bei Andrew. Am wenigsten bei Andrew. Ihr Verlobter – wenn sie ihn denn immer noch so bezeichnen will, denn die für den nächsten Sommer geplante Hochzeit wird sicherlich nicht stattfinden – hat dieses Gefühl nie in ihr ausgelöst. Ihre Hände liegen immer noch in ihrem Schoß, sie dreht den Ring hin und her, fühlt sein Gewicht, die Sicherheit, die er ihr gibt. Als Andrew ihn ihr überreicht hat, war er nicht nur ein Symbol für das Eheversprechen, sondern auch für das Leben, das sie sich aufgebaut hatte. Ein BA von der Puget Sound State University, ein MBA von der University of Washington, mit dreißig die jüngste stellvertretende Vorsitzende von Shipp Pharmaceuticals. Was spielte es schon für eine Rolle, dass sie ihre Karriere zum Teil der Tatsache zu verdanken hat, dass sie die Verlobte von Andrew Shipp ist, dem CEO und Thronerben? Den Rest hat sie sich verdammt hart erarbeitet. Egal. Dieses Leben gibt es jetzt nicht mehr. Einerseits weiß sie, dass sie noch einmal glimpflich davongekommen ist. Ihr gewiefter Anwalt war jeden Cent wert, den Andrew ihm gezahlt hat. Andererseits: fünf verdammte Jahre. Im Gefängnis wird es niemanden interessieren, dass sie draußen studiert hat und erfolgreich war, dass sie bis zu ihrer Verhaftung ein sechsstelliges Jahresgehalt bezogen hat (plus Boni) und dass sie kurz davorstand, Mitglied einer der ältesten und bedeutendsten Familien Seattles zu werden.
Wenn sie rauskommt – gesetzt den Fall, dass sie das Gefängnis überlebt und nicht in der Dusche erstochen wird –, wird sie vorbestraft sein. Wegen eines Kapitalverbrechens. Sie wird nie wieder einen normalen Job bekommen. Jedes Mal, wenn irgendjemand ihren Namen googelt, wird der Fall des Sweetbay-Würgers auftauchen, denn das Internet vergisst nie. Sie wird noch einmal ganz unten anfangen müssen. Nein, nicht ganz unten, noch tiefer. Sie wird sich aus der Grube befreien müssen, die sie sich selbst gegraben hat. Sie berichtet weiter von den Ereignissen jener grauenhaften Nacht, bemüht sich, klar und deutlich zu sprechen. Die Geschworenen und die Zuschauer hängen ihr an den Lippen. Den Blick fest auf diese eine Stelle an der hinteren Wand des Saals geheftet, beschreibt sie alles, wie es gewesen ist. Die Football-Party bei Chad Fenton zu Hause. Das Fass Bowle, die fast zur Hälfte aus Wodka bestand. Sie erzählt, wie sie und Angela die Party früh verlassen, wie sie kichernd in ihren dünnen Kleidchen zu Calvin torkeln, sturzbetrunken. Sie beschreibt die pulsierende Musik, die aus Calvins Anlage dröhnt. Wie Angela getanzt hat. Wie Angela mit Calvin geflirtet hat. Wie sie alle noch mehr getrunken haben und die Welt angefangen hat, sich zu drehen und sich in ein Kaleidoskop aus Formen und Farben zu verwandeln, bis Geo schließlich das Bewusstsein verloren hat.
Dann, etwas später, die Fahrt im Auto zu Geo nach Hause, Calvin am Steuer, Angela zusammengefaltet im Kofferraum. Den langen, mühsamen Weg in den Wald, nur beleuchtet durch eine kleine Taschenlampe an Calvins Schlüsselbund. Die kühle Nachtluft. Der Geruch der Bäume. Der harte Boden. Wie ihr Weinen im Wald widerhallte, wie ihr Kleid mit Erde, Gras und Blut besudelt war. »Sie haben also nicht direkt gesehen, wie Calvin die Leiche zerstückelt hat?«, fragt der Staatsanwalt. Geo windet sich. Er will Angelas Zerstückelung ins Rampenlicht zerren, will alles so grauenhaft wie möglich schildern, dabei war ihre beste Freundin da schon längst tot, was grauenhaft genug war. »Nein, ich habe nicht gesehen, wie er es getan hat«, antwortet sie. Dabei schaut sie Calvin nicht an. Es geht nicht. »Was hat er benutzt?« »Eine Säge. Aus dem Schuppen im Garten.« »Eine Säge Ihres Vaters?« »Ja.« Sie schließt die Augen. Sie sieht immer noch den glänzenden Stahl im Mondlicht aufblitzen. Den hölzernen Griff, das gezackte Sägeblatt. Später war alles voller Blut, Haut und Haaren. »Der Boden war zu… steinig. Wir konnten kein Loch graben, das groß genug war für… für ihren… ganzen Körper.« Eine Bewegung geht durch den Saal. Ein Rascheln, dann leises Murmeln. Andrew Shipp ist aufgestanden. Er schaut Geo an; ihre Blicke begegnen sich. Er nickt ihr zu, deutet mit einer Kopfbewegung eine Entschuldigung an, dann verlässt ihr Verlobter den Gerichtssaal durch die schwere Doppeltür am hinteren Ende.
Möglicherweise wird sie ihn nie wiedersehen. Es schmerzt mehr, als sie erwartet hat. Wütend dreht sie ihren Verlobungsring an ihrem Finger, dann schiebt sie den Schmerz vorerst beiseite. Walter Shaw, der jetzt neben einem leeren Platz sitzt, rührt sich nicht. Geos Vater ist nicht gerade für seine Emotionalität bekannt, und der einzig sichtbare Ausdruck seiner Gefühle ist die Träne, die ihm über die Wange läuft. Er hat diese Geschichte auch noch nie gehört, und sie wird es ihm nicht übel nehmen, falls er Andrew durch die schwere Tür folgt. Aber ihr Vater geht nicht. Gott sei Dank. »Wie lange hat es gedauert? Sie zu zerstückeln?«, fragt der Staatsanwalt. »Ziemlich lange«, sagt Geo leise. Ein Schluchzen ertönt in der Mitte des Saals. Candace Wong Plattens Schultern beben, ihr Ex-Mann legt einen Arm um sie, obwohl er sich selbst kaum noch beherrschen kann. Die jetzigen Ehepartner der beiden sitzen stumm vor Entsetzen neben ihnen und wissen nicht, wie sie reagieren, was sie tun sollen. Es geht nicht um ihre Tochter, aber auch sie empfinden den Schmerz. »Es kam mir vor, als hätte es sehr lange gedauert.« Alle Blicke sind auf sie gerichtet. Auch Calvins. Ganz langsam hebt Geo den Kopf, und endlich begegnen sich ihre Blicke. Zum ersten Mal, seit sie den Gerichtssaal betreten hat, hat sie Blickkontakt mit ihm. Kaum merklich, sodass nur sie es wahrnehmen kann, weil sie es erwartet, nickt er. Sie wendet sich ab und konzentriert sich wieder auf den Staatsanwalt, der gerade einen Schluck Wasser trinkt.
»Sie haben sie also dort zurückgelassen«, sagt der Staatsanwalt, stellt das Glas ab und tritt wieder an den Zeugenstand. »Und dann haben Sie einfach weitergelebt, als wäre nichts geschehen. Sie haben die Polizei belogen. Sie haben Angelas Eltern belogen. Sie haben diese Eltern vierzehn Jahre lang leiden lassen, vierzehn lange Jahre, in denen sie nicht wussten, was mit ihrem einzigen Kind passiert ist.« Er hält inne. Schaut demonstrativ erst Geo, dann Calvin, dann die Geschworenen an. Als er weiterspricht, flüstert er fast, sodass alle im Saal sich anstrengen müssen, um ihn zu verstehen. »Sie haben Ihre beste Freundin im Wald vergraben, keine hundert Meter von Ihrem Elternhaus entfernt, nachdem Ihr Freund sie zerstückelt hatte.« »Ja«, sagt sie und schließt wieder die Augen. Sie weiß, wie grässlich das klingt, weil sie weiß, wie grässlich es war. Aber die Tränen wollen nicht kommen. Sie hat keine mehr übrig. Jemand im Saal weint leise. Eigentlich ist es eher ein Wimmern. Die Brust von Angelas Mutter hebt und senkt sich, sie hat das Gesicht in den Händen verborgen, ihr knallroter Nagellack ist abgesplittert, das kann Geo selbst von ihrem Platz aus sehen. Victor Wong neben ihr weint nicht, aber seine Hand, mit der er ein Taschentuch aus der Brusttasche zieht, um es seiner Ex-Frau zu reichen, zittert stark. Der Staatsanwalt hat keine weiteren Fragen. Der Richter ordnet eine Mittagspause an. Die Geschworenen verlassen den Saal, die Zuschauer stehen auf und strecken sich. Es wird telefoniert. Journalisten hacken auf die Tastaturen ihrer Laptops ein.
Der Gerichtsdiener führt Geo aus dem Zeugenstand, und sie geht langsam am Tisch der Verteidigung, an dem Calvin sitzt, vorbei. Er steht auf, packt sie an der Hand und hält sie fest. »Schön, dich zu sehen«, sagt er. »Selbst unter diesen Umständen.« Ihre Gesichter sind nur Zentimeter voneinander entfernt. Seine Augen sind noch genauso, wie sie sie in Erinnerung hat, leuchtend grün mit einem goldenen Rand um die Pupillen. Manchmal sieht sie diese Augen im Traum, hört seine Stimme, spürt seine Hände an ihrem Körper, dann ist sie schon häufig schweißgebadet aus dem Schlaf gefahren. Doch jetzt steht er vor ihr, so real wie eh und je. Sie sagt nichts, denn es gibt nichts zu sagen, erst recht nicht vor all den Leuten, die sie beobachten und mithören. Sie schüttelt seine Hand ab. Der Gerichtsdiener schiebt sie vorwärts. Sie spürt den Zettel, den Calvin ihr in die Hand gedrückt hat und steckt ihn unauffällig in die Tasche ihres Kleids. Sie bleibt stehen, um sich von ihrem Vater zu verabschieden und ihm den Verlobungsring zu geben, den einzigen Schmuck, den sie trägt. Walter Shaw umarmt sie unbeholfen. Dann lässt er sie los und wendet sich ab, damit sie nicht sieht, wie sich sein Gesicht vor Kummer verzerrt. Die Verhandlung ist noch nicht zu Ende, Geos Rolle dabei schon. Sie wird ihren Vater erst wiedersehen, wenn er sie im Gefängnis besucht. Der Gerichtsdiener führt sie zurück in die Zelle. Sie setzt sich auf die Bank hinten in der Ecke, und während die Schritte des Gerichtsdieners langsam verklingen, nimmt sie Calvins Zettel aus der Tasche.
Es ist ein Stück von einer Seite seines gelben Notizblocks. Darauf hat er in seiner kleinen, sauberen Handschrift geschrieben: Gern geschehen. Neben die zwei Worte hat er ein kleines Herz gezeichnet. Sie knüllt den Zettel zu einer winzigen Kugel zusammen und verschluckt ihn. Weil das die einzige Möglichkeit ist, ihn loszuwerden. Geo hockt allein in ihrer Zelle, tief in Gedanken versunken. Die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft fließen ineinander, die inneren Stimmen plappern zeitgleich mit den Stimmen der Polizisten im Flur, die sich über die letzte Folge von Grey’s Anatomy unterhalten. Geo fragt sich kurz, ob man im Gefängnis Grey’s Anatomy sehen kann. Sie hat keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen ist, als ein Schatten vor den Gitterstäben auftaucht. Als sie aufblickt, steht Detective Kaiser Brody da. Er hält eine Papiertüte von einem Hamburger-Imbiss und einen Milchshake in den Händen. Einen Erdbeer-Milchshake. Die Papiertüte strotzt vor Fettflecken, und Geo läuft das Wasser im Mund zusammen. Sie hat seit dem Frühstück, einer kleinen Schale Haferflocken mit kalter Milch, die ihr auf einem schmuddeligen Blechtablett hier in der Zelle vorgesetzt wurde, nichts mehr gegessen. »Wenn das nicht für mich ist, bist du echt grausam«, sagt sie. Kaiser hält die Tüte hoch. »Das ist für dich. Und du bekommst es auch… wenn du mir sagst, was Calvin James dir im Gerichtssaal zugesteckt hat.«……..