Scharfschütze ***WERBUNG***
Ein Thriller wie eine nervenzerreißende Achterbahnfahrt!
Ein kaltblütiges Attentat erschüttert München. Scheinbar wahllos erschießt ein Unbekannter mit einem Präzisionsgewehr fünf Menschen und entkommt. Die Sonderkommission fahndet nach dem Täter, doch findet weder ein brauchbares Motiv noch eine Verbindung zwischen den Opfern. Von Politik und Medien unter Druck gesetzt, sieht sich der Polizeichef gezwungen, den eigensinnigen Kriminalhauptkommissar Paul Simon in den Dienst zurückzuholen. Simons erste Spur führt zu der Leiche eines Exsoldaten, der sich in einem Brief zu der Tat bekennt. Der Fall scheint gelöst. Aber Simon spürt, dass eine viel grausamere Wahrheit hinter dem Anschlag steckt ...
Über den Autor
Christian Kärger, aufgewachsen im Allgäu, studierte an der Hochschule für Fernsehen und Film und arbeitete 30 Jahre als Drehbuchautor in München. Über hundert seiner Drehbücher wurden für Kino und TV verfilmt. Der Autor lebt heute in Memmingen.
Der wirklich sehr Eigensinnige Kommissar Paul Simon soll nun diesen Skrupellosen Täter zur Strecke bringen.
Paul Simon ist vom lesen her schon sehr eigen und er bringt einen selber manchmal selbst auf die Palme. Denn er verfolgt nur seine Interessen und macht das was er will, auch seine Kollegen werden nicht informiert und in den Fall mit eingebunden.
Familie ist auch eher Nebensache und auch stellt er seinen Beruf und seine Meinung über seine Familie.
So das waren nun die Macken Paul Simon aber in dem Buch und in der Story passt er super rein und macht die Story spannend. Das ist für mich so ein Colombo Effekt eigentlich nervt er total aber trotzdem schaut man ihn immer wieder und er macht es auch immer wieder Spannend man will ja auch wissen was kommt als nächstes.
Es ist ein wirklich Spannendes Buch und auch atemraubend und schockierend zugleich.
Leseprobe
PROLOG »Psycho Killer, qu’est-ce que c’est? Fa, fa, fa, fa, fa, far better Run, run, run, run, run away Psycho Killer, qu’est-ce que c’est?« In den Kopfhörerstöpseln, die er sich in die Ohren geklemmt hat, hämmert die Musik. Talking Heads. Psycho Killer. In seinem Kopf ist es höllisch laut, und ihm ist höllisch heiß. Den Refrain des Songs singt er aus vollem Hals mit, während er sich mit einem Tuch den Schweiß abwischt. Er sitzt an einer Werkbank in einer fensterlosen Halle mit kahlen Betonwänden. Sie hat die Ausmaße einer Tennishalle, ist aber bis auf die Werkbank, einige Schränke und Regale und einen matt lackierten braunen Pick-up leer. An der Wand über der Werkbank hängen Werkzeuge, wohlsortiert und geordnet nach Funktion und Größe. In Regalen und auf Rollschränken stehen PCs und Bildschirme unterschiedlicher Bauart und Größe, verbunden durch Kabelbündel. In Kartons befinden sich Elektronikteile: Festplatten, Keyboards, Tastaturen, Soundkarten, Router, Drucker. In einer aufgeklappten Metallkiste stecken Handfeuerwaffen in maßgeschneiderten Schaumstoffvertiefungen. Ein zweiter, längerer Metallkoffer enthält die Einzelteile eines Scharfschützengewehrs samt Zielfernrohr und aufschraubbarem Mündungsfeuerdämpfer, es ist ein mehrschüssiges Repetiergewehr, im Militärjargon G 22 genannt.
Der Minutenzeiger der billigen Küchenuhr im Sichtfeld des Mannes rückt mit einem Klicken auf die Zwölf vor, der Stundenzeiger steht auf der Drei. Der Mann wirft einen kurzen Blick auf das Ziffernblatt und vertieft sich dann wieder im Licht einer hellen Zahnarztlampe ganz in seine Arbeit. »Psycho Killer, qu’est-ce que c’est? Fa, fa, fa, fa, fa, far better Run, run, run, run, run away Psycho Killer, qu’est-ce que c’est?« Er ist noch keine vierzig Jahre alt, seine Haare sind militärisch kurz geschnitten, er hat Aknenarben auf Stirn und Wangen, und seine durchtrainierten Unter- und Oberarme sind übersät mit farbigen Tattoos, die von einem Meister seines Fachs gestochen worden sind. Die Motive, die nahtlos ineinander übergehen, entstammen dem fantastischen Universum von William Blake. Drachen, Engel, rätselhafte und unheimliche Mischwesen in Menschen- und Tiergestalt, eine explodierende Sonne. Es ist Hochsommer, die Luft ist stickig, und der kleine Tischventilator, der im Regal auf Kopfhöhe steht, ist abgeschaltet, weil schon der kleinste Luftzug das filigrane Werk des Mannes beeinflussen und vor allem die exakt ausgewogenen Pulvermengen für das, was er herstellt, durcheinanderbringen könnte. Es gibt keine Kühlung, bis er seine Arbeit beendet hat. Deshalb perlt ihm der Schweiß an Stirn und Schläfen herunter. Das Amphetamin und das andere pharmazeutische Zeug, das er eingeworfen hat, verstärken die Schweißbildung, aber gnadenlose Hitze ist er gewohnt. Er war in Afghanistan und in Mali.
Alle paar Minuten wischt er sich mit einem fleckigen Tuch ab, ist ganz darauf konzentriert, keine Fehler bei seiner haarigen Präzisionstüftelei zu machen. Wenn ihm ein Schweißtropfen ins Auge gelangen würde, der brennt und ihn unfreiwillig zum Zwinkern zwingt, wäre er möglicherweise einen Moment lang nicht sorgfältig genug. Und das kann er sich nicht leisten. Bei den Patronen vom Kaliber .300 Winchester Magnum, die er für seine Zwecke mit der Wiederladepresse unter der starken Vergrößerungslupe selbst fertigt, darf er keinen Blindgänger produzieren, das würde seine ganze Mission infrage stellen. Seine Hände stecken in ungepuderten Chirurgenhandschuhen, damit auch nicht der Bruchteil eines Fingerabdrucks auf die glatte Oberfläche der Patronenhülsen gelangt. Neben den bereits fertigen Patronen ist alles akkurat aufgereiht, was er für die Herstellung braucht: eine Pulverwaage, ein Satz Matrizen, leere Hülsen, Anzündhütchen, Treibladungspulver. Der Mann hat schon das Zündhütchen platziert, die Hülse wird mit der exakt abgewogenen Menge an Pulver befüllt, das Geschoss wird gesetzt, und der Hülsenmund wird eingezogen. »Yeah, yeah We are vain and we are blind I hate people when they’re not polite Psycho Killer, qu’est-ce que c’est?« Er entnimmt der Wiederladepresse die letzte fertige Patrone und unterzieht sie einer genauen Überprüfung unter der Vergrößerungslupe. Mit dem Ergebnis ist er zufrieden. Erleichtert lehnt er sich zurück, pult sich die Ohrstöpsel her aus und drückt die fünf eigens für seine Zwecke produzierten Patronen in ein leeres Magazin.
Es ist das vierte − drei weitere Magazine mit der speziellen Munition sind daneben bereits aufgereiht. Anschließend säubert er die Werkbank, indem er mit einem Handbesen sorgfältig jeden Metallspan und jedes Pulverkorn in einen Abfalleimer kehrt. Jetzt kann er auch endlich den Ventilator anschalten. Der Propeller hinter dem Schutzgitter kommt schnell auf Touren, der Ventilator dreht sich stoisch von links nach rechts und wieder zurück. Mit geschlossenen Augen hält der Mann sein Gesicht in den Luftstrom und genießt die kühlende Wirkung. Doch noch kann er nicht zum gemütlichen Teil der Nacht übergehen. Zuerst müssen die benutzten Werkzeuge penibel aufgeräumt werden, jedes kommt an seinen angestammten Platz. Erst dann öffnet er die Tür eines kleinen Kühlschranks unter der Werkbank und holt eine Flasche Bier heraus. Er drückt das kalte Glas gegen seine Stirn, hebelt mit seinem Einwegfeuerzeug geschickt den Kronenkorken auf und lässt ein paar lange, erfrischende Schlucke die Kehle hinunterrinnen. Mit der Flasche in der Hand setzt er sich wieder auf seinen Stuhl, rollt zum Monitor, steuert mit der Maus die Menüleiste an und klickt eine Videodatei an. Auf dem großen Bildschirm erscheint eine amerikanische Dokumentation mit einer Analyse des Zapruder-Films, der am 22. November 1963 vom gleichnamigen Hobbyfilmer in Dallas, Texas, aufgenommen wurde. In 19,3 Sekunden zeigt er die verhängnisvolle Fahrt der Wagenkolonne des amerikanischen Präsidenten die Elm Street entlang über die Dealey Plaza und das anschließende Attentat auf John F. Kennedy, der neben seiner Gattin auf dem Rücksitz der offenen Stretchlimousine sitzt. Einzelbild für Einzelbild wird der genaue Ablauf gleichsam seziert und im Off kommentiert.
Es sind genau 486 digital überarbeitete Frames, allerdings ohne Ton. Zapruders Bell & Howell Zoomatic war für die damalige Zeit hochmodern, aber eben nur eine Stummfilmkamera im 8-mm-Format. Man kann zwar die Auswirkungen der Schüsse auf die Wageninsassen sehen, sie aber nicht hören – obwohl man glaubt, es zu tun. So tief haben sich die Bilder der albtraumhaften Ereignisse ins kollektive Gedächtnis der Menschheit eingegraben. Sie sind in ihrer Wucht und Wirkung nur mit den Aufnahmen der Flugzeuge von 9/11 zu vergleichen, die in die Zwillingstürme des World Trade Centers rasen. Der Mann im T-Shirt muss den Film schon unzählige Male gesehen haben. Er zielt mit dem Finger, und immer dann, wenn ein Schuss fallen muss, sagt er: »Peng!« Er kann den Blick einfach nicht von den bonbonbunt wirkenden Kodachrome-Farben auf dem Bildschirm abwenden. Wie gebannt starrt er auf Kennedy, der in Frame 232 die Arme hochreißt, weil eine Kugel von hinten seinen Rücken durchschlägt und vorne am Hals austritt. Trotz des Einschlagimpulses wird sein Oberkörper nicht nach vorne geschleudert, was nach physikalischen Gesetz mäßigkeiten der Fall sein müsste. John F. Kennedy kippt nur leicht nach links gegen seine Frau, weil er wegen einer alten Rückenverletzung ein Stützkorsett trägt, das ihn aufrecht hält. Was fatale Auswirkungen hat – ausgerechnet das Hilfsmittel, das dem Präsidenten das Leben erleichtern soll, trägt mit dazu bei, dass er das Leben verliert. In Frame 313, dem Bild, das lange Zeit auf Drängen des Urhebers und auf Anordnung von FBI und CIA nicht gezeigt werden durfte, wird der Kopf des 35. Präsidenten der USA getroffen und explodiert in einer roten Wolke aus Blut, Gewebe, Gehirnmasse und Knochen.
In Frame 360 krabbelt die First Lady Jacqueline Kennedy in ihrem himbeerfarbenen Chanel-Kostüm und dem gleichfarbigen Pillbox-Hut voller Panik und scheinbar schutzsuchend nach hinten auf den Kofferraum der schweren, offenen Limousine. Mittlerweile geht man davon aus, dass sie nicht zu fliehen versucht, sondern im Schockzustand Gehirnmasse ihres Gatten aufsammeln will. Im Folgenden wird sie von einem aufspringenden Leibwächter des Secret Service in den Wagen zurückgedrängt, bevor die Kolonne Fahrt aufnimmt und aus dem Blickwinkel der Kamera in einer Unterführung verschwindet. Es gibt die Theorie, dass die von Lee Harvey Oswald abgefeuerten drei Schüsse nicht, wie lange Zeit angenommen, in 5,6 Sekunden, sondern in elf Sekunden abgegeben wurden. Die Annahme einer elfsekündigen Schussfolge lässt es noch wahrscheinlicher erscheinen, dass Oswald ein Einzeltäter war, was unzähligen Verschwörungstheoretikern aus wissenschaftlicher Sicht endgültig den Wind aus den Segeln nehmen würde. Schließlich gab es jede Menge Experten, die es für unmöglich hielten, dass aus einem Repetiergewehr billigster Machart, einem italienischen Mannlicher-Carcano 91/38 aus dem Versandhandel für 12 Dollar 78 Cent, binnen 5,6 Sekunden drei Schüsse abgegeben werden konnten, von denen zwei auch noch trafen, und das über 73 Meter beziehungsweise 81 Meter Entfernung aus einem Fenster im sechsten Stockwerk eines Lagerhauses. Aber nach heutigem Wissensstand hat diese minderwertige Waffe tatsächlich den mächtigsten Mann dieses Planeten innerhalb weniger Herzschläge vom Leben zum Tode befördert. Der Mann stoppt den Film und steht auf. Er nimmt noch einen Schluck aus der Bierflasche, stellt sie ab und greift in die Metallkiste mit dem Scharfschützengewehr. Mit professioneller Routine setzt er das G 22 samt Zielfernrohr zusammen, ohne es zu laden.
Er visiert damit im Stehen eine Zielscheibe auf der gegenüberliegenden Wand an, die schwarze Silhouette eines menschlichen Körpers. Aber der Mann zielt nicht auf das Herz, sondern auf den Kopf. Er setzt das Gewehr noch einmal ab und drückt mit der linken Hand auf eine digitale Stoppuhr. Sobald die Uhr läuft, reißt er den Gewehrschaft in einer einzigen flüssigen Bewegung an die rechte Wange, visiert den Kopf der Zielscheibe an, drückt ab, repetiert, zielt, drückt ab, repetiert. Nach fünf angetäuschten Schüssen hält er mit einer schnellen Handbewegung die Stoppuhr an. Fünf Schüsse in 9,7 Sekunden. Der Mann ist mit sich zufrieden, nimmt das Gewehr wieder auseinander und macht sich daran, es zu reinigen, obwohl es nicht benutzt worden ist. Es ist wohl eher eine Art Ritual. Das ihm die Gewissheit verleiht, mindestens so gut zu sein wie Lee Harvey Oswald. Nur dass sein G 22 dem Mannlicher-Carcano um Lichtjahre überlegen ist. Und die von ihm selbst hergestellte Munition wesentlich zuverlässiger und schneller als Oswalds herkömmliche 7,35x51-mm-Patronen, die zum Zeitpunkt des Attentats auf Kennedy genauso alt waren wie das Gewehr: nämlich dreiundzwanzig Jahre. Aber letzten Endes kommt es immer auf den Schützen an. Lee Harvey Oswald war ein bei den US-Marines ausgebildeter Scharfschütze. Ein Profi, der genau wusste, was er tat – wenn auch nur in dem einen entscheidenden Augenblick, als die Wagenkolonne mit dem Präsidenten in sein Blick- und Schussfeld kam. Ein Profi wie der Mann im weißen T-Shirt mit den Tattoos auf den Armen, der sich die Ohrstöpsel wieder ansteckt, die Bierflasche austrinkt und den nächsten Song von Talking Heads hört, ihren größten kommerziellen Hit. Burning down the house. Während er den Lauf der G 22 beinahe liebevoll im Rhythmus der Musik mit Waffenöl einreibt, summt er leise mit. »Watch out, you might get what you’re after Cool babies, strange but not a stranger I’m an ordinary guy Burning down the house …«
EINS
Paul Simon träumt. Es ist ein wiederkehrender Albtraum, der ihn in unregelmäßigen Abständen quält. Immer dann, wenn er denkt, er wäre ihn endlich für alle Zeiten los. Aber er lässt ihn nicht los. Sein zweites Ich, sein Zwillingsbruder, von dessen Existenz er nichts gewusst hatte, der ihn nach langer Suche aufgespürt, observiert und in eine tödliche Falle gelockt hatte, ist wieder einmal am Fußende seines Betts aufgetaucht und sieht ihn vorwurfsvoll an. Sagen kann er nichts, denn seine Lippen sind mit Sicherheitsnadeln verschlossen. Er steht dabei in Flammen, die seinen Körper wie ein Heiligenschein umlodern, ohne ihn zu verbrennen. Dabei ist sein Bruder tatsächlich verbrannt, mehr als Asche und ein paar Knochen sind nicht übrig geblieben, nachdem Paul Simon ihn mit Benzin übergossen und durch ein Fenster aus dem zwölften Stock ins Jenseits geschickt hat. Aber selbst von dort aus gibt er keine Ruhe und schaut als Gast aus der Hölle immer mal wieder des Nachts bei Paul Simon vorbei, um ihn in seinen Träumen heimzusuchen und ihn dar an zu erinnern, wie dünn der Firnis zwischen Gut und Böse ist. Und dass man bei einem menschlichen Gehirn nicht einfach auf »Löschen« drücken kann, damit bestimmte Erinnerungen auf ewig im mentalen Nirwana verschwinden. Wenn Paul wach ist und sich an seine Albträume erinnert, wünscht er sich jedes Mal so eine Delete-Taste.
Aber dieser Wunsch ist ungefähr so realistisch wie eine Zeitmaschine, mit der man in frühere Zeiten zurückkehren und Unrecht wiedergutmachen kann. Nein, er muss lernen, mit seiner eigenen Schuld und Vergangenheit zu leben. Und das weiß er nur zu gut. Aber ein Bewusstsein für das einzig Richtige zu haben, heißt noch lange nicht, dass damit alles besser wird. Paul Simons Zwillingsbruder ist beileibe nicht der Einzige, der sich bei aller Willenskraft nicht verscheuchen lässt. Auch andere Gespenster aus der Vergangenheit suchen ihn gelegentlich in seinen Träumen heim. Stellvertreter des Bösen, mit denen Paul Simon im Laufe seiner Arbeit als Kommissar bei der Münchener Mordkommission zu tun gehabt hat. Das ist der Grund, weshalb er seinen Dienst bei der Kriminalpolizei quittiert hat. Das und die Tatsache, dass er zum zweiten Mal Vater geworden ist und seine Frau ihn vor die Wahl gestellt hat – Menschenjäger oder Familienvater. Eine Alternative gibt es nicht. Und beides zusammen ist für Paul Simon nicht zu vereinbaren. Er kann nicht nach Hause kommen und seinen Job einfach im Präsidium zurücklassen. Die verstörenden Bilder von Ermordeten und blutbesudelten Leichenfundorten, die dreisten Lügen der Tatverdächtigen, den Hass, die Brutalität, die nackte Gewalt und den blanken Horror, den Paul Simon wie kein Zweiter spürt, wenn er mit einem neuen Tatort konfrontiert ist. Weil er dafür ein spezielles Sensorium hat. Selbst den Gestank und den Dreck kann er dabei ausblenden. Für kriminalistische Ermittlungen ein Segen, für seine Seele und sein psychisches Gleichgewicht ein Fluch.
Von irgendwo her dringt Babygreinen an seine Ohren. Seit der Geburt seiner zweiten Tochter ist Paul Simon innerlich darauf geeicht, sofort davon aufzuwachen, selbst wenn sein Unterbewusstsein gerade in noch so tiefe menschliche Abgründe verstrickt ist. Durch das Weinen ist das Phantom des Zwillingsbruders am Fußende des Bettes irritiert. Es schaut sich um, verpixelt und löst sich schließlich auf. Es dauert nur einen Atemzug, bis Paul Simon wahrnimmt, dass das Quengeln Wirklichkeit ist und kein weiteres Produkt seiner unbewussten Gehirntätigkeit in der Amygdala, dem Teil des Temporallappens, das ihm immer aufs Neue etwas vorgaukelt, was er verdrängen und vergessen will. Ruckartig setzt er sich auf und merkt, dass er schweißgebadet ist. Es ist mitten im Hochsommer, und selbst in der Nacht kühlt es nicht auf erträgliche Temperaturen ab. Er beruhigt seine Frau, die neben ihm liegt, nach ihm tastet und schlaftrunken etwas vor sich hin murmelt. »Bleib liegen, ich mach das schon«, flüstert er. Dann steht er auf und geht an das Kinderbett, das im ehelichen Schlafzimmer untergebracht ist. Er holt seine kleine Tochter heraus und legt sie behutsam an die Schulter, um sie zu trösten. Sie zahnt, und er trägt sie in die Küche, um seine Frau nicht weiter zu stören, sie braucht ihren Schlaf. Auf der Anrichte steht schon der abgekühlte Tee aus fünf aufgekochten Gewürznelken bereit. Er taucht seinen Finger in den Tee und reibt damit sanft das Zahnfleisch von Isabelle ein, die sich schnell wieder beruhigt. Als er mit seiner kleinen Tochter auf dem Arm noch vorsichtig einen kurzen Blick in das Zimmer seiner zwölfjährigen Tochter Magdalena wirft und sie im Schein ihrer Schlaflampe friedlich schlummern sieht, weiß er wieder, dass seine Entscheidung richtig war, den Job hinzuschmeißen und erst einmal den Hausmann zu geben.
Er wiegt seine Kleine in den Armen und summt dazu leise eine Melodie, die ihm in den Sinn kommt. Das beruhigt Isabelle und ihn gleichermaßen. Das Mädchen sollte Gerlinde oder Isabelle heißen, darauf war es noch vor der Geburt nach langer und heftiger Diskussion im Familienrat hinausgelaufen. Magdalena sollte das letzte Wort bei der Namenswahl haben, das hatten Paul und Amelie per Augenkontakt beschlossen, den Magdalena sehr wohl registriert und richtig gedeutet hatte. Ihrer schwerwiegenden und verantwortungsvollen Aufgabe bewusst, reizte Magdalena ihren Trumpf bis zum Äußersten aus. Für solche Situationen hatte sie schon immer ein besonderes Faible. Wie ihr Vater, der bei seinen Vernehmungen im Morddezernat immer ganz genau gewusst hatte, wie sehr einem Verdächtigen simples Schweigen zusetzen konnte und wie er das als Waffe einsetzen musste. Natürlich tat Magdalena nur so, als würde sie noch überlegen. Ihr Vater und ihre Mutter sahen sie auffordernd an. Isabelle oder Gerlinde? »Gerlinde ist mega-uncool«, konstatierte Magdalena endlich. »Warum?«, wollte Amelie wissen. »Deine Oma heißt so.« »Aber Oma ist alt. Gerlinde, so heißen höchstens die Mädchen in Fantasyromanen«, meinte Magdalena neunmalklug. »Also Isabelle«, seufzten die Eltern synchron auf, froh und erleichtert darüber, dass Magdalena ihnen die endgültige Entscheidungsfindung abgenommen hatte. Paul Simon legt Isabelle zurück in ihr Bettchen, deckt sie zu und schlüpft zu seiner Frau unter die warme Bettdecke. Sie zieht ihn an sich, und er merkt, dass er wieder einschlafen kann. Als sie sich so eng an ihn schmiegt, ist er sich sicher, dass sich kein Gespenst aus der Vergangenheit mehr manifestieren und ihn heimsuchen wird. Zumindest in dieser Nacht nicht…………………..