Der Verrat
Broschiert: 480 Seiten
Verlag: Penguin Verlag; Auflage: Originalausgabe (27. Dezember 2018)
Sprache: Deutsch
ISBN-13: 978-3328100904
Größe und/oder Gewicht: 13,5 x 4,3 x 20,5 cm
Buch Trailer
Ein Buch was mich mal wieder richtig fesselte.
In dem Buch geht es um Leidenschaft,Geschwisterrivalität,Liebe,Ängste,Schuld,Lügen Rache und Verrat.
Ein Weingut an der Saar. Ein altes Verbrechen. Und eine Schuld, die nie verjährt ...
Als Nane nach zwanzig Jahren Haft aus dem Gefängnis entlassen wird, hat sich vieles verändert. Nicht aber die Schuld, die weiter auf ihr lastet. Nicht die Erinnerung an die Nacht, die ihr Leben zerstörte und schon gar nicht das Verhältnis zu ihrer Schwester Pia.
Pia hat es gut getroffen. Die erfolgreiche Restaurateurin lebt mit ihrem Mann auf einem idyllischen Weingut an der Saar. Da lässt es sich gut verdrängen, auf welch zerbrechlichem Fundament ihr Glück gebaut ist. Doch dann tritt ihre Schwester Nane wieder in ihr Leben und Pia ahnt: Es ist Zeit für die Wahrheit. Und damit Zeit für Rache – oder Vergebung.
Pressestimmen:
»Drei Schwestern, ein Mord und jede Menge Lügen; eine scheinbar untragbare Schuld, die am Ende auf ganz anderen Schultern lastet als ursprünglich gedacht. Die Ahnung, dass sich das Lügennetz aufrollen wird, hält die Geschichte spannend, die fein gezeichneten Figuren machen es schwer, das Buch aus der Hand zu legen.« (stern)
»Der Roman rollt der Tragödie entgegen, reißt den Leser besonders wegen seiner menschlichen, greifbaren Figuren mit und lässt ihn nachdenklich zurück: Schuld, Rache oder Vergebung? Psychologisch tiefgründig, absolut lesenswert!« (Hamburger Morgenpost)
»Eine unglaubliche Geschichte von Schuld, Hass und einer unvorstellbaren Lebenslüge. Das Ganze ist absolut lesenswert. Die Idee ist einzigartig.« (hr1 Buchtipp)
»Düsterer Familienroman« (SUPERIllu)
»Ein Lesegenuss. Ein Blick in die tiefen Abgründe des menschlichen Seins.« (Super Freizeit)
»Meisterhafte Erzählkunst verbindet sich bei dieser Autorin mit psychologischer Spannung.« (Süddeutsche Zeitung)
Ich kann nur bestätigen das es schwer ist das Buch aus der Hand zu legen.
Eigentlich war ich gerade am anderen Buch dran es zu lesen aber ich musste unbedingt in das Buch rein schauen,naja bei dem nur mal reinschauen ist es nicht geblieben den ich musste es nun doch weiterlesen.
Drei Schwestern die unterschiedlicher nicht sein können.
Da ist einmal Pia die alles im Griff haben will und rational eingestellt ist,dann Birgit die immer vermitteln will und total Harmonie süchtig ist und dann eben Nane die Sprunghaft ist und emotional ist eben die, die eine Mörderin ist oder sein soll.
Nach dem Nane aus der Haft gekommen ist kümmert sich Birgit um Nane sie besorgt ihr Arbeit und auch eine Wohnung und kümmert sich sonst auch gute um sie.
Pia allerdings will mit Nane nix zu tun haben und erteilt ihr sogar Hausverbot den sie kann Nane nicht verzeihen was vor 20 Jahren war.
Nane selbst versteht selber nicht genau was vor 20 Jahren genau passiert ist und hat noch viele offene Fragen.
Um endlich Klarheit zu bekommen geht Nane der Sache selber nach und gefährdet dabei sogar ihr Freiheit da sie nur auf Bewährung draußen ist.
Das Buch fängt an 1998 mit einem Unfall,Kapitel eins ist dann Sommer 2018 eben 20 Jahre Später.
Das Buch ist in zwei Teile sage ich mal aufgebaut einmal eben in der 2018 Zeit und natürlich 20 Jahre vorher.
Im Laufe der Geschichte erfährt man eben auch was 1998 passiert ist.
Ich muss sagen ich fand das Buch sehr toll und auch Spannend,es lässt sich Flüssig lesen.
Ich kann es nur Empfehlen.
Leseprobe:
Prolog
Sommer 1998
Es war Neumond, und die Nacht lag warm und schwarz
über dem Tal. Im Dorf saßen Touristen und Einheimische
dicht gedrängt vor der Schenke bei Riesling und Spätburgunder. Ihre Bewegungen und Gedanken waren schwerfällig von üppigen Gerichten wie Schwenker und Gefillde,
vom Wein und schwüler Luft. Hinter den Mauern des
Gasthofs glitt der Fluss ruhig in seinem Bett dahin, nur
die Mücken schienen immun gegen die Trägheit der Sommernacht. Beinahe lautlos suchten sie nach Opfern.
Die Kirchturmuhr schlug elf, als Renate Soffas eines
dieser Biester mit einem Hieb auf ihrem Arm zerquetschte. Vier Stunden schon hatte sie Schüsseln, Teller, Gläser
und Flaschen zwischen Küche und Terrasse hin und her
geschleppt, als es endlich ein wenig ruhiger wurde. Die
Gelegenheit für eine Rauchpause. Verschwitzt verließ sie
die Gaststube durch die Hintertür, stellte sich ans Ufer
der Saar und schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen.
Noch bevor sie das Feuerzeug aus der Schürzentasche gezogen hatte, vernahm sie das verräterische Sirren
und holte mit der Hand aus, mehr ahnend als wissend,
wohin sie schlagen musste. Ein Klatschen, gefolgt von
Stille. Allerdings nur für einen Moment, denn von weiter
oben am Berg, wo das Weingut Graven lag, erklang das
Brummen eines Motors. Kurz darauf erschienen Fahrzeuglichter in der Dunkelheit.
Renate zündete die Zigarette an und inhalierte den
Rauch, während sie das Auto beobachtete. Da sie seit
fünfundfünfzig Jahren im Dorf lebte, kannte sie die Straße
so gut, dass sie blind hinauf und hinunter gefunden hätte.
Deshalb wurde sie jetzt unruhig, denn sie sah anhand der
Scheinwerfer, dass der Wagen sich der ersten von fünf
Haarnadelkurven näherte. Langsam sollte der Fahrer mal
vom Gas gehen, dachte sie. Doch ganz im Gegenteil, der
Wagen wurde schneller. Auf der abschüssigen Straße tanzten die Lichter auf und ab. Unwillkürlich hielt Renate den
Atem an. Um Himmels willen! War der Fahrer etwa besoffen? Wenn er nicht endlich bremste, würde das nicht gut
gehen. Doch er bremste nicht. Adrenalin jagte durch ihre
Adern. Von einem Moment auf den anderen fielen Müdigkeit und Erschöpfung von ihr ab. Mein Gott!, dachte sie
noch, dann hörte sie schon den dumpfen Schlag, mit dem
das Fahrzeug die Leitplanke durchbrach und in die Steillage des Graven’schen Prälatengartens stürzte. Das Auto
überschlug sich zwei-, dreimal, bis die umherwirbelnden
Lichter erloschen und nur noch metallisches Scheppern
und das Bersten von Glas zu hören waren, dem Stille folgte, als der Wagen endlich liegen blieb. Für einen Moment
versuchte Renate Soffas sich einzureden, sie habe sich das
Ganze nur eingebildet. Doch sie wusste, was sie gesehen
hatte. Sie spürte es am ganzen Leib. Mit bebenden Hän-
den warf sie die Zigarette ins Wasser und lief nach vorne auf die Terrasse, wo der Hauptmann der Freiwilligen
Feuerwehr noch bei einem Absacker saß.
Kapitel 1
Sommer 2018
Der Himmel wölbte sich in einem makellosen Blau über
dem Tal der Saar. Weinberge erstreckten sich zu beiden
Seiten des Flusses, so weit das Auge reichte. In gleichmäßigen grünen Reihen zogen sich Rebstöcke über Hänge und Hügel. Es sah aus, als wäre die Landschaft schraffiert. Wie immer erfasste Pia von Manthey eine tiefe
Zufriedenheit beim vertrauten Anblick der Gegend, die
seit zwei Jahrzehnten ihre Heimat war.
Es war gegen zehn Uhr vormittags, als sie aus Frankfurt
zurückkehrte. Sie hatte ihren Mann Thomas zum Flughafen gebracht. Für vier Tage musste er nach London zur
Weinmesse, und sie vermisste ihn schon jetzt. Trotz der
zwanzig Ehejahre, die hinter ihnen lagen. Wo war die Zeit
nur geblieben? Thomas war ihr Freund, ihr Vertrauter,
ihr Gefährte, wenn man einen derart altmodischen Begriff gebrauchen wollte. Wobei sie eine Schwäche für Altes hatte. Als Restauratorin war das Bewahren und Erhalten schließlich ihr Beruf.
Sie durchquerte Dörfer mit verwinkelten Gassen und Fachwerkhäusern, die üppig mit Blumenschmuck herausgeputzt waren. Die Hauptstraßen säumten Weinstuben
und Terrassencafés. Überall waren Touristen, wie jeden
Sommer. Wanderer, Mountainbiker, Genießer und kulturell Interessierte. Familien, Kinder, Paare aller Altersstufen und seit einigen Jahren sogar Besucher aus Japan
und China.
Pia erreichte das Dorf Graven und bog kurz danach mit
ihrem Jeep auf die Straße ein, die in fünf Serpentinen hinauf zum Weingut führte. Im Weinberg waren die Arbeiter mit Laubarbeiten beschäftigt. Bereits zum zweiten Mal
in diesem Sommer mussten die Reben gegipfelt werden.
Wenn man die langen Sommertriebe nicht zurückschnitt,
würden sie Trauben und Boden beschatten, und das war
nicht gut für die Qualität des Weins. In der Großlage des
Graven’schen Mühlbergs konnten dafür Maschinen eingesetzt werden, doch in der Steillage des Prälatengartens sah
Pia die Arbeiter wie Ameisen herumklettern. Hier musste alles von Hand gemacht werden, ein aufwendiges und
mühsames Unterfangen, das sich am Ende aber auszahlte.
Pia schaltete einen Gang herunter und nahm die nächste Haarnadelkurve. Die Sonne blendete, und sie schob die
Sonnenbrille vom Haar zurück auf die Nase. Sie freute
sich darauf, nach Hause zu kommen. Das Weingut war
ihre Heimat, seit sie den Winzer Thomas von Manthey
geheiratet hatte, der in dieser Erde verwurzelt war wie
ein alter Baum. Seit über zweihundert Jahren war das Gut
im Familienbesitz. Genauer gesagt, seit ein Vorfahre von
Thomas es 1803 beim Kartenspiel gewonnen hatte. Einen
verwilderten Weinberg und ein heruntergekommenes
Château hatte er vorgefunden. Doch das schreckte ihn
nicht, er krempelte die Ärmel hoch, baute Graven wieder
auf, und sein ältester Sohn hatte es von ihm übernommen.
Sechs Generationen von Mantheys hatten Graven nun
schon durch die Zeiten geführt – durch Revolutionen,
den Deutsch-Französischen Krieg und zwei Weltkriege,
durch den Wiederaufbau danach und das Wirtschaftswunder. Sie hatten Krisen und Skandale überstanden
und auch das Feuer, das ausgebrochen war, als kurz vor
Kriegsende eine amerikanische Mustang in den Garten
stürzte und in Flammen aufging. Zusammen mit den beiden kriegsgefangenen Franzosen, die auf dem Hof zur
Arbeit eingesetzt waren, hatte Thomas’ Großmutter das
Feuer gelöscht. Wie oft er ihr diese Geschichte erzählt hatte. »Mon dieu! Das schöne Haus. Der gute Wein!«, hatte
François immer wieder gerufen und die Pumpe wie ein
Wahnsinniger betätigt. Am Ende war der Teich leer gewesen, die Enten saßen auf dem Trockenen, doch Wohnhaus
und Weinkeller waren gerettet.
Das Weingut Graven war Thomas’ Ein und Alles. Es
war sein Leben, seine Heimat und damit auch ihre und
die ihrer gemeinsamen Tochter, die das Gut einmal übernehmen würde.
Nach der fünften Serpentine hatte man einen grandiosen Ausblick auf das Tal und den Fluss, der tief unter ihr
lag und funkelte, als wäre er mit Diamanten besetzt. Pia
wandte den Blick rasch wieder ab und konzentrierte sich
aufs Fahren. Wer hier von der Straße abkam, stürzte dreißig Meter in die Tiefe. Ein leichter Schauer überlief sie,
und die Erinnerungen an den Sommer vor zwanzig Jahren drohten aufzusteigen, doch sie erstickte sie im Keim,
wie sie es immer tat.
Für einen kurzen Moment blieb ein ungutes Gefühl zurück, bis sie die weiße Mauer sah, die
das Gut umgab, und das Tor aus Schmiedeeisen, das offen
stand.
Langsam ließ sie den Wagen in den Hof rollen und erfreute sich an dem Anblick, wie immer, wenn sie Graven
sah. Das Gut war ein Juwel. Am Ende der Auffahrt lag
das Herrenhaus – manche bezeichneten es auch als Manoir oder Château –, das aus einem prächtigen dreigeschossigen Haupthaus und zwei angebauten Seitenflügeln bestand. Schiefergedeckte Dächer, aus denen ein
halbes Dutzend Kamine ragten. Die Mauern in zartem
Gelb gestrichen. Efeu und üppig blühende Englische Rosen rankten sich an Spalieren empor. Akkurat geschnittene Buchsbäume flankierten die mit Kopfsteinen gepflasterte Einfahrt. Rechter Hand befanden sich Garagen und
Stellplätze, daneben das alte Kelterhaus, das Thomas vor
vielen Jahren in eine Vinothek hatte umbauen lassen. Ein
Reisebus parkte davor, denn eine Besichtigung mit anschließender Weinprobe stand an. Das neue und mit modernster Technik ausgestattete Keltergebäude befand sich
dahinter, ein wenig versetzt am Rand des Areals.
Richtung Süden und bis weit hinter das Hauptgebäude
erstreckte sich der Garten, den Thomas’ Großmutter im
englischen Stil hatte anlegen lassen, mit Ententeich, weiten Rasenflächen, Büschen und alten Bäumen. Ein Gärtner kümmerte sich darum.
Als Pia den Jeep abstellte, bemerkte sie Leonhard, den
Kellermeister. Er steuerte das Büro im Seitenflügel an, das
Reich ihrer Schwägerin Margot.
»Hallo, Pia.« Grüßend hob er die Hand. »Ist Thomas
schon auf dem Weg nach London?«
»Ich komme gerade vom Flughafen. Brauchst du ihn?«
Er schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht. Die vier Tage
kommen wir ohne ihn aus. Und die Entscheidung wegen
der neuen Abbeermaschine kann bis dahin warten.« Er
nickte ihr zu, warf den obligatorischen prüfenden Blick
zum Himmel und verschwand in Margots Büro.
Unwillkürlich sah auch Pia nach dem Wetter, wie man
sich das auf einem Weingut angewöhnte. Seit Mitte Juli
war es heiß und kein Regen gefallen. Mit jedem Sonnentag gewannen die Trauben an Süße. Thomas hoffte auf
einen guten, vielleicht sogar großen Jahrgang. Hoffentlich hielt die Schönwetterperiode noch ein Weilchen an.
Pia ging ins Haus, wo der Steinboden und die dicken
Mauern für angenehme Kühle sorgten. Im Flur legte sie
die Wagenschlüssel in die Schale auf die Anrichte und
strich sich eine der dunklen Haarsträhnen hinters Ohr.
Weder die Anrichte noch der Spiegel waren Antiquitäten,
sondern modernes italienisches Design, wie beinahe alle
Möbel im Haus, die in ihrer schlichten Eleganz einen
wunderbaren Kontrapunkt zum historischen Rahmen des
Gebäudes setzten. Vor einigen Jahren hatte die Journalistin einer Wohnzeitschrift das Weingut Graven und seine
Besitzer in einer Homestory porträtiert und die schlichte
Eleganz gelobt. Sie war nicht Pias Werk. Den Grundstein
dafür hatte Thomas’ erste Frau gelegt.
Pia warf einen kurzen prüfenden Blick in den Spiegel.
Nächstes Jahr wurde sie fünfzig, doch das sah man ihr
nicht an. Die Haut war noch straff, was sie den guten
Genen der Frauen ihrer Familie verdankte, die sie zuverlässig von Generation zu Generation weitergaben. Genau
wie den Fluch, der angeblich auf ihnen lastete.
Im Gegensatz zu ihrer Mutter glaubte Pia nicht daran, wobei nicht
zu leugnen war, dass es den Frauen ihrer Familie über
Generationen hinweg mit erschreckender Zuverlässigkeit
gelungen war, sich ins Unglück zu stürzen. Doch sie alle
hatten das selbst in der Hand gehabt, dachte Pia. Diesem Beispiel war sie nicht gefolgt. Bei diesem Gedanken
wurde ihr kurz schwindelig, und sie musste sich an der
Kommode abstützen.
Die Verbindungstür zwischen Bürotrakt und Haupthaus
wurde geöffnet. Das leise Klackern von Absätzen erklang
auf dem Steinboden. Es kündigte Pias Schwägerin Margot an, die wenig später mit einem Aktenordner in der
Hand erschien. Sie war schon jenseits der Fünfzig und
eine elegante Erscheinung, während Pia wie so oft ihr Arbeitsoutfit trug, Jeans und T-Shirt.
»Guten Morgen, Pia. Hast du Thomas gut zum Flughafen gebracht?«
»Es war wenig Verkehr. Wir sind schnell durchgekommen.«
»Prima. Ich lege ihm die Angebote für die Abbeermaschinen auf seinen Schreibtisch.« Mit diesen Worten
verschwand Margot in Richtung von Thomas’ Arbeitszimmer, während Pia sich ein Glas Wasser aus der Küche
holte und dann nach oben in ihre Werkstatt ging, die sich
im ersten Stock mit Aussicht auf den Hof und die Vinothek befand.
Auf drei Staffeleien standen die Gemälde, die sie bis zu
einer Auktion im Oktober restaurieren musste. Sie waren
der Grund, weshalb sie Thomas nicht nach London begleiten konnte. Der Termin war knapp, und es war höchste Zeit, mit der Arbeit zu beginnen.
Pia zog ein fleckiges Hemd über das Shirt, öffnete das
Fenster, um frische Luft hereinzulassen, und ließ ihren
Blick kurz über das Anwesen schweifen. Eine stille Freude erfasste sie. Sie hatte in ihrem Leben alles erreicht,
was sie sich je erträumt hatte. Einen Beruf, der sie erfüllte. Einen Mann, der sie liebte. Eine Tochter, auf die sie
stolz war. Ein abwechslungsreiches und schönes Leben.
Es fehlte ihr an nichts, und dafür war sie dankbar. Im Gegensatz zu ihren Schwestern Birgit und Nane hatte sie alles richtig gemacht.
*
»Da wären wir.« Birgit schlug die Wagentür hinter sich
zu und wies auf das Haus am Schweizer Platz in Frankfurt-Sachsenhausen. Voller zwiespältiger Gefühle stellte
Nane sich neben ihre Schwester. Nun war sie also wieder
daheim.
Fünf Etagen Gründerzeit. Eine ockergelbe Fassade und
schmiedeeiserne Balkone zum Platz hinaus, der von Läden und Lokalen gesäumt wurde. Das Wetter war warm
und windig, und die Luft roch nach Sommer, nach Blumen und Parfums. Ein Radler sauste vorbei. Ein Hund
hatte sich losgerissen, bellend lief er über die Straße und
jagte in der Grünfläche einer Taube hinterher. Überall
Menschen, Geräusche, Gesprächsfetzen. Überall Leben!
Von irgendwo klang Musik zu Nane, und der Duft von
Kreuzkümmel stieg ihr in die Nase. Eine geballte Ladung
lange vermisster Eindrücke. Es war überwältigend und
beinahe zu viel für sie. Also atmete sie tief durch und betrachtete das Haus.
Ihre Eltern hatten es Ende der Siebzigerjahre gekauft,
auf der Suche nach einem Ort, an dem sie ihre drei Mädchen großziehen konnten. Unten der Antiquitätenhandel
mit der angeschlossenen Galerie, darüber die Familienwohnung und oben die sogenannte Altersvorsorge, die
Mietwohnungen. Ihr Vater hatte eine Erbschaft in das
Haus investiert. Dennoch bezeichnete er den Kauf gerne
als ziemlich spießig für ein Paar, das von sich behauptete,
unkonventionell und links zu sein. Doch das waren sie
nie gewesen, eher liberal angehauchtes Bürgertum. Er ein
Möchtegernbohemien und ihre Mutter die Luxusausgabe
eines Hippiemädchens mit einer esoterischen Seite: Räucherstäbchen, Klangschalen, Schamanenzauber.
Die Jahrzehnte waren vergangen, die Eltern bereits gestorben, und die drei Mädchen waren mittlerweile zwischen Mitte und Ende vierzig.
»Du sagst ja gar nichts.« Besorgt sah Birgit sie an. Vor
zwanzig Jahren war auch sie eine hübsche junge Frau gewesen, voller Ziele und Pläne, die sich allesamt zerschlagen hatten. Graue Strähnen hatten sich in Birgits dunklen
Locken ausgebreitet, und die Zeit hatte ihr einen bitteren
Zug um den Mund gelegt.
»Es ist nur so ungewohnt«, entgegnete Nane.
»Jetzt gehen wir erst mal rauf, und wenn etwas ist …
Ich bin ja da. Du findest mich entweder in meiner Wohnung nebenan oder hier unten im Geschäft.« Birgit wies
auf den Laden. Galerie Arnholdt. Kunst & Antiquitäten
des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Darauf hatten sich
ihre Eltern seinerzeit spezialisiert – Mutter auf die Möbel
und Einrichtungsgegenstände dieser Zeit und Vater auf
Gemälde und Skulpturen. Im Schaufenster stand ein Sofa von Finn Juhl mit einem maigrünen Bezug. Bei seinem
Anblick erfasste Nane eine Sehnsucht nach ihrer Kindheit, nach ihren Eltern, nach einer Zeit, in der alles gut
gewesen war. Dabei stimmte das nicht ganz. Denn nicht
alles war gut gewesen.
Nane betrachtete ihr Bild in der spiegelnden Fensterscheibe. Das hellblaue ärmellose Leinenkleid, das Birgit
ihr für diesen Tag mitgebracht hatte, war schick, und es
tat gut, den Luftzug an den nackten Beinen zu spüren,
nach so langer Zeit in den immer gleichen blauen Hosen.
»Hübsch siehst du aus.« Birgit wies auf das Spiegelbild. »Blau steht dir. Du hast dich eigentlich gar nicht
verändert.«
Natürlich hatte sie sich verändert, wenn auch eher in
ihrer Persönlichkeit als in ihrem Äußeren. Sie war ruhiger geworden, ein wenig gelassener. Ihre Figur war noch
schlank und ihre Haut blass wie eh und je. Der Teint war
fast so hell wie das weißblonde Haar, das sie noch immer
wie eine federleichte Wolke umgab. Der Blick aus ihren
blauen Augen kam ihr verwirrt vor, und genauso fühlte
sie sich auch. Ein wenig durcheinander.
Birgit wollte ihr den Karton abnehmen, doch sie wehrte
die Hilfe ihrer Schwester ab, die schon so viel für sie getan hatte. »Lass uns nach oben gehen«, schlug Nane vor.
Die drei Schwestern hatten das Haus von den Eltern geerbt, und Birgit, die es verwaltete und den Kunsthandel
weiter betrieb, hatte eine frei gewordene Wohnung nicht
neu vermietet, seit sich abgezeichnet hatte, dass der Rest
von Nanes lebenslanger Strafe zur Bewährung ausgesetzt
werden würde.
Mit dem Lift fuhren sie in die dritte Etage, und ein Anflug von Panik streifte Nane. Obwohl man sie darauf vorbereitet hatte, fürchtete sie sich mit einem Mal davor,
selbst für sich verantwortlich zu sein. Mehrmals hatte
sie Freigang bekommen und unter Aufsicht ihres Bewährungshelfers und in Birgits Begleitung einen Crashkurs
absolviert, wie die Welt heute funktionierte. Einkaufen
im Supermarkt. U-Bahn fahren und vorher ein entsprechendes Ticket kaufen. Das neue Smartphone bedienen.
Vor zwanzig Jahren hatte sie ein Handy besessen, an dem
man noch eine Antenne herausziehen musste. Man hatte
sich SMS geschrieben statt WhatsApps. Wobei sie vieles
bereits aus dem Fernsehen und Romanen kannte, ihren
Gucklöchern in das Leben jenseits der Mauern.
Als ob Birgit ihre Zweifel gespürt hätte, legte sie einen
Arm auf Nanes Schultern. »Das wird schon.« Der Lift
kam oben an, sie stiegen aus, und Birgit sperrte die Wohnungstür auf.
»Tata! Da wären wir.« Ihre Schwester breitete die Hände aus wie eine Zauberin im Varieté. »Zwei Zimmer, Küche, Bad. Balkon auf den Platz hinaus. Ich hoffe, das ist
dir nicht zu laut.«
Ihre erste eigene Wohnung, und das mit sechsundvierzig. Früher hatte sie immer mit jemandem zusammengewohnt. Erst in WGs und später mit Mark, ihrem Mann.
Die Wohnung war licht und hell, freundlich. Und sie
roch gut. Ein schmaler Flur. Bad mit Wanne. Das Schlafzimmer zum Innenhof und ein Wohnzimmer mit großen
Fenstern. Moderne Möbel kombiniert mit Stücken aus
dem Laden. Ein lederbezogener Sessel zog Nane an. Er
stand neben der Balkontür. »Ist das Mamas Egg Chair?«
Birgit lachte. »Nee, der ist von Arne Jacobsen.«
»Sag ich doch. Mamas Sessel. Ach, Birgit …« Ihr kamen beinahe die Tränen. »Das ist so lieb von dir.«
»Eine kleine Erinnerung an sie. Mark hat mir geholfen,
die Wohnung einzurichten. Gefällt sie dir?«
»Mark?«, fragte Nane überrascht. »Ihr habt noch Kontakt?«
»Ziemlich lose. Ab und an telefonieren wir. Als ich ihm
gesagt habe, dass du rauskommst, hat er spontan seine
Hilfe angeboten. Die konnte ich schon gebrauchen. Du
weißt also gar nicht, dass Claire und er sich getrennt haben?«
»Nein. Woher auch? Er hat mir damals eine Art Abschiedsbrief geschrieben, dass er mich nicht mehr besuchen kann, weil seine neue Freundin das nicht will. Ist
ja verständlich. Und danach habe ich nichts mehr von ihm
gehört.« Nane wollte das Thema nicht vertiefen und sah
sich um. »Die Wohnung ist so schön geworden.«
»Wir haben nur für die Grundausstattung gesorgt. Den
Rest musst du selbst einrichten.«
Nane stellte den Karton ab und umarmte ihre Schwester. »Danke, Birgit. Danke für alles.«