Die Wälder ***WERBUNG***
Als Nina die Nachricht erhält, dass Tim, ihr bester Freund aus Kindertagen, unerwartet gestorben ist, bricht eine Welt für sie zusammen. Vor allem, als sie erfährt, dass er sie noch kurz vor seinem Tod fast manisch versucht hat, zu erreichen. Und sie ist nicht die Einzige, bei der er sich gemeldet hat. Tim hat ihr nicht nur eine geheimnisvolle letzte Nachricht hinterlassen, sondern auch einen Auftrag: Sie soll seine Schwester finden, die in den schier endlosen Wäldern verschwunden ist, die das Dorf, in dem sie alle aufgewachsen sind, umgeben. Doch will Nina das wirklich? In das Dorf und die Wälder zurückkehren, die sie nie wieder betreten wollte ...
Autorin:
Melanie Raabe wurde 1981 in Jena geboren. Nach dem Studium arbeitete sie tagsüber als Journalistin - und schrieb nachts heimlich Bücher. 2015 erschien DIE FALLE, 2016 folgte DIE WAHRHEIT und im Sommer 2018 DER SCHATTEN. Melanie Raabes Romane werden in über 20 Ländern veröffentlicht. Die FALLE war international eines der heißumkämpftesten Bücher der letzten Jahre, TriStar Pictures sicherte sich die Filmrechte. Melanie Raabe lebt und schreibt in Köln.
Als erstes Muss ich sagen die Sprache in dem Buch ist schon sehr Gewöhnungsbedürftig, sie erinnert eher an einen Dialog zwischen Teenagern als an einen Thriller. Wen man dann aber das beiseite liegt ist das Buch schon recht Interessant geschrieben und auch Spannend. Aber der Titel und auch das Cover sind nicht unbedingt zutreffend den es geht nicht wirklich viel um Wald oder Wälder.
Die Geschichte spielt in zwei Zeiten einmal in der Vergangenheit durch die Erinnerungen von Nina an die Kindheit und natürlich in der Gegenwart dadurch das sie sich gerade auf die Suche nach Gloria ist.
Nina entscheidet sich nun den Wunsch von Tim nachzukommen und begibt sich nun in ihr Heimatdorf um die Wahrheit aufzudecken was passiert ist. Sie hat dabei aber ein ungutes Gefühl was sie dort aufdecken kann oder wird. Es machte ihr nicht nur in der Kindheit Angst sonder auch nun Aktuell den sie hat nun auch Angst.
Durch die wechselnden Zeiten werden auch immer wieder neue Puzzelteile aufgedeckt die irgendwann ein großes ganzes ergeben.
Über die Charaktere erfährt man im Laufe auch alles was für die Geschichte wichtig ist, sie sind total gegensätzlich aber genau das ist das was passt den sie ergänzen sich in der Story sehr gut.
Es ist mal ein anderer Thriller eben durch den Schreibstil aber wen man in den Schreibstil reingefunden hat und den etwas ausblendet und sich nur auf die Geschichte konzentriert ist es eine Spannende Story.
Leseprobe
Vollmond Die alte Frau beeilte sich. Außer ihr war niemand mehr unterwegs, und auch sie wollte daheim sein, bevor die Straßenlaternen verloschen. Bevor die Dunkelheit auf das Dorf herabfiel wie ein Vorhang aus Finsternis. Der Vollmond spendete kein Licht heute Nacht, er hielt sich hinter dichten Wolken verborgen. Auf Höhe der uralten Linde musste sie kurz innehalten, um zu verschnaufen. Einen Moment nur. Sie war ja fast zu Hause. Schwer stützte sie sich auf ihren Stock, und während sie Atem schöpfte, schweifte ihr Blick unwillkürlich zu den letzten Häusern des Ortes, die sich ein Stück weit die Straße hinunter abzeichneten. Hinter ihnen begannen die Wälder. Die Wälder waren gefährlich. Sie erstreckten sich vom Rand des Dorfes unendlich weit und wurden immer finsterer, je tiefer man in sie vordrang. Die Wälder veränderten die Menschen, die es wagten, sie zu durchqueren. Manche gingen alt und gebeugt hinein und kamen jung und aufrecht wieder heraus, doch bei den meisten war es genau umgekehrt. Einigen verhalfen die Wälder zu Klarheit, anderen verwirrten sie den Sinn. In ihrem Zentrum waren sie so schwarz, dass jeder, der einmal in dieses Dunkel blickte, auf immer sein Augenlicht verlor. Mitten durch sie hindurch lief eine Schlucht, so tief, dass ein Stein, den man hineinwarf, ein Jahr lang fiel, bevor er auf den Grund traf.
Die Wälder waren lebendig. Bevölkert von Wesen, so alt wie die Erde selbst. Manchmal riefen sie nach den Menschen, griffen nach ihnen, wenn sie unvorsichtig genug waren, dem Waldrand zu nahe zu kommen. Und manchmal, ganz selten, kam des Nachts etwas heraus aus den Wäldern, angezogen von den warmen Körpern und den Träumen der Menschen, und ging um in den Straßen des Dorfes. Die alte Frau kannte die Sagen. Sie setzte sich wieder in Bewegung, bog in ihre Straße ein, hörte bereits das Plätschern des Baches, der das Dorf durchfloss. Gerade war sie an die Brücke gekommen, die sie überqueren musste, um zu ihrem Häuschen zu gelangen, als das Licht um sie herum verlosch. Erschrocken sog sie die Luft ein. Nicht der Dunkelheit wegen, die sie plötzlich umgab, sondern wegen dem, was sie einen Wimpernschlag lang wahrgenommen hatte, bevor die Straßenbeleuchtung abgeschaltet worden war, genau auf der Schnittstelle zwischen Licht und Finsternis. Am anderen Ende der Brücke stand etwas. Die alte Frau starrte in die Schwärze vor ihr. Horchte. »Ist da wer?« Ihre Stimme klang fremd. Sie wartete, erhielt keine Antwort. Sagte sich, dass sie sich getäuscht haben musste. Dass sie nicht die ganze Nacht hier stehen bleiben konnte. Gerade hatte sie sich wieder vorsichtig in Bewegung gesetzt – sie brauchte kein Licht, um sich in der Dunkelheit zurechtzufinden, sie kannte diesen Weg im Schlaf –, als der Mond hinter den Wolken hervorkam und die kleine Brücke vor ihr in silbriges Licht tauchte.
Und da war sie wieder. Die Erscheinung. Es war ein junges Mädchen. Es stand am anderen Ende der Brücke und sah sie aus starren Augen an. Die alte Frau hielt sich am Geländer der Brücke fest. Sie war neunundachtzig Jahre alt, aber völlig klar und bei Verstand, und auch ihre Augen waren immer noch gut. Sie bildete sich das nicht ein. Sie sah das Geistermädchen ganz genau. Das weiße Gewand im Mondlicht, ein Segel im Wind. Die durchscheinende Haut, das wehende Haar, schwarz wie die Nacht selbst. Und die dunklen Augen, die Dinge erblickt hatten, die nicht von dieser Welt waren. All das sah die alte Frau. Aber die dünne Blutspur, die der Geist hinterließ, als er sich umwandte und in Richtung der Wälder verschwand, die sah sie nicht.
1
Die Finsternis brach urplötzlich herein. Von einer Sekunde auf die andere. Sie hielt drei Tage, fünfzehn Stunden und vierunddreißig Minuten lang an. Nina war gerade auf dem Heimweg, die Schicht steckte ihr in den Knochen. Eigentlich hatte sie für Halloween freigenommen, doch der Kollege, der sie hätte ablösen sollen, war nicht rechtzeitig aus dem Urlaub zurückgekehrt, Pilotenstreik oder so was, also war sie geblieben. Fast achtundvierzig Stunden lang. Die halbe Nacht über hatte sie in der Notaufnahme mit der Pinzette Glassplitter aus Handflächen und Knien geholt, Mägen ausgepumpt, Platzwunden genäht, gebrochene Nasen versorgt. Ein kleiner Superman, der höchstens zwölf oder dreizehn sein konnte und aussah, als wäre er einer ordentlichen Menge Kryptonit ausgesetzt gewesen, der offiziell jedoch mit Alkoholvergiftung eingeliefert worden war, hatte sie aus halb geschlossenen Augen angeschaut und sie gefragt, ob sie ein Engel sei, bevor er sich auf ihren Kittel übergeben hatte. Mit Wehmut hatte Nina an das Prinzessin-Leia-Kostüm gedacht, das ungetragen in ihrem Zimmer hing. Ihre Mitbewohnerin hätte ihr die Haare geflochten, sie hatte sich eigens ein Tutorial auf Youtube dafür angeschaut, und sie wären auf die Party eines gemeinsamen Freundes gegangen.
Egal. Es war, wie es war. Niemand hatte sie gezwungen, Ärztin zu werden. Sie hatte dem Jungen die Haare aus der verschwitzten Stirn gestrichen und war sich umziehen gegangen. Viel Glück, Kleiner. Möge die Macht mit dir sein. Als der Kollege sie dann doch noch abgelöst hatte und Nina das Krankenhaus verließ, hätte sie eigentlich taumeln müssen vor Erschöpfung, doch sie war hellwach. Das Runterfahren dauerte immer lange bei ihr, die Müdigkeit würde auch heute auf sich warten lassen – und der Schlaf erst recht. Nina entschied, nicht direkt vor dem Krankenhaus in die U-Bahn zu steigen, sondern ein paar Straßen weiter die S-Bahn zu nehmen. Sie brauchte Auslauf. Trotz der feuchten Kälte, die in den letzten Tagen von der Stadt Besitz ergriffen hatte, waren die Straßen immer noch voll, und je näher Nina der Haltestelle kam, desto lauter und gedrängter wurde es. Sirenengeheul, Gelächter und Gebrüll. An der großen Kreuzung, auf die sie zusteuerte, sah es aus, als könnte jeden Moment der Straßenkampf losbrechen. Überall Betrunkene, viele von ihnen verkleidet. Skelette, Vampire, Zombiehorden. Die Stimmung war irgendwo zwischen ausgelassen und aggressiv, unmöglich zu sagen, in welche Richtung sich das gleich noch entwickeln würde hier, die Luft schmeckte nach Tequila und Beton. In der Ferne zuckte das Blaulicht eines Krankenwagens. Es knirschte unter Ninas Schuhen, in dieser Nacht waren schon so viele Bierflaschen zu Bruch gegangen, dass es kaum noch möglich war, nicht in Scherben zu treten. Streitende Pärchen, junge Männer in kleinen Grüppchen, vermutlich auf der Suche nach einem Club, der sie auch ohne Mädels im Schlepptau nicht abweisen würde.
Ein Taxifahrer hupte einen Mann an, der sich als Frankensteins Monster verkleidet hatte und ihm direkt vor den Wagen gelaufen war. Der Fahrer legte die Hand auf die Hupe und nahm sie einfach nicht wieder runter. Der Lärm war ohrenbetäubend. An einer Straßenecke schoss eine junge Frau mit ausrasierten Schläfen mit einer Schreckschusspistole in den Himmel, vertrieb die letzten Rotkehlchen auf sieben Jahre aus der Stadt. Zwei Dragqueens, von denen sich die eine als gute und die andere als böse Fee verkleidet hatte, bewarfen Passanten mit Glitzer. Nina überquerte die Kreuzung, wich einer Gruppe Dementoren aus, die ihr entgegenkam, und stieß mit einem dunkelhaarigen Mann zusammen, der komplett in Schwarz gekleidet war, rote Kontaktlinsen und kunstvoll aufgeklebte Hörner trug, die tatsächlich aussahen, als wüchsen sie direkt aus seiner Stirn. Ein paar Meter weiter wurde Nina auf vier Mädchen aufmerksam, die sich als Ghostbusters verkleidet hatten. Kurz sah sie ihnen nach und fragte sich, wo man bloß diese absolut echt aussehenden Protonenpacks bekam, die sie sich auf die Rücken geschnallt hatten, als ihr klar wurde, dass das Mobiltelefon in ihrer Hosentasche vibrierte. Der Anruf brachte alles zurück. Das Dorf und die Wälder. Das röteste Rot und das schwärzeste Schwarz. Den kalten Zigarettenrauch. Die Friedhofsblumen. Dahlien und Astern. Milchzähne in Plastikbehältern und Schlüpfer auf der Leine. Herbststürme und Blindschleichen und Hagebuttensträucher und Kohleöfen. Die feuchte Erde und den Geschmack von Metall. Und die Wölfe. Vor allem die.
2
Sie schaffte es gerade so nach Hause. War froh, die Wohnung verwaist vorzufinden. Jessie war wohl noch feiern, und Bill Murray, Ninas Hund, lag friedlich in seinem Körbchen. Sie schleppte sich in die Küche, goss sich mit zittriger Hand ein Glas Wasser ein, trank und ließ sich auf einen der Stühle fallen. Saß kurz einfach so da. Sie fühlte sich, als wäre gerade eine Blendgranate vor ihr detoniert. Als Nina hörte, wie die Wohnungstür geöffnet wurde, blickte sie auf und sah eine betrunkene Jessie in den Raum stolpern. Sie war als Untote verkleidet, als Corpse Bride in einem mit Blut und Friedhofserde besudelten Brautkleid. »Na, du Verräterin?«, sagte Jessie, als sie Nina am Küchentisch sitzen sah. »Hast du dich doch noch entschieden, mal wieder nach Hause zu ko…« Sie stockte, als sie Ninas Gesichtsausdruck bemerkte. »Ist alles in Ordnung?« In diesem Moment brachen alle Dämme. »Oh mein Gott, Nina! Was ist denn bloß passiert?« Nina war nicht in der Lage, zu antworten. »Süße«, sagte Jessie. »Was ist denn nur los?« Und dann, alarmiert: »Hat dir jemand was getan?« Nina schüttelte den Kopf.
»Es ist Tim«, stieß sie hervor. »Was ist mit ihm?« Nina versuchte, die Worte zu formen, doch mehr als ein Schluchzen brachte sie nicht zustande. Sie stand auf, riss ein Stück Küchenrolle ab und putzte sich die Nase. Atmete tief durch. »Rita hat mich angerufen. Seine Mutter«, sagte sie. »Er hat… sie sagt, er hat… er ist nicht mehr da.« Er ist weg, einfach so. Jessie blinzelte. Es dauerte einen Moment, bis sie begriff. »Oh mein Gott!« Nina ließ sich wieder auf einen der Küchenstühle sinken und barg das Gesicht in den Händen. Die Uhr über der Tür tickte unbeeindruckt. Draußen hupte ein Auto. Jessie streifte ihre weißen Pumps ab und setzte sich ihrer Mitbewohnerin gegenüber. »Wie…« Sie suchte nach Worten. »Was ist denn bloß passiert?« »Ein Unfall. Mehr weiß ich nicht.« »Fuck, Nina«, murmelte Jessie. »Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.« Nina hörte sie kaum. Irgendwie begann sie ja selbst erst, zu begreifen. Tim. Wie unzertrennlich wir als Kinder waren, damals, im Dorf, dachte sie. Wie weh es tat, ihn zurückzulassen, als ich fortzog mit meinen Eltern. Wie ungewöhnlich es alle fanden, dass wir es schafften, Kontakt zu halten. Über die Kindheit, über das Heranwachsen, über einfach alles hinaus. Mal mehr, mal weniger natürlich.
Manchmal habe ich monatelang nichts von ihm gehört. Dann wieder fast täglich. Manchmal, wenn er Drogen nahm, hatte ich keine Lust, ranzugehen, wenn er anrief. Aber wenn ich die Worte »bester Freund« gehört habe, habe ich immer nur an ihn gedacht. Tim hätte alles für mich getan. Genauso wie ich für ihn. Und jetzt ist er weg. Einfach so. »Wir haben uns viel zu lange nicht gesprochen«, sagte Nina. Und genau in dem Moment, als sie das sagte, traf es sie. Oh mein Gott. Nina spürte, wie ihre Hände zu zittern begannen. Wie konnte ich das nur vergessen? »Jessie«, sagte sie, und sie hörte ihre eigene Stimme wie von fern. »Ich muss jetzt einen Moment für mich sein.« Als sich die Tür hinter ihrer Mitbewohnerin schloss, atmete Nina aus. Barg erneut den Kopf in den Händen. Stand auf. Setzte sich wieder hin. Kramte ihr Handy hervor und legte es vor sich auf den Küchentisch. Starrte es an. Tim hatte doch vor ein paar Tagen noch versucht, sie zu erreichen. Wie zum Teufel konnte ich das vergessen? Tim hatte ein Talent dafür, zur Unzeit anzurufen. Er meldete sich am liebsten mitten in der Nacht oder dann, wenn Nina gerade am Arbeiten war. Außerdem war er unter seinen Freunden bekannt dafür, weitschweifige Mailboxnachrichten zu hinterlassen, und Nina fand, seit sie den Job im Krankenhaus angetreten hatte, nicht immer sofort die Zeit, sie abzuhören. Einmal hatte Tim sie angerufen, bloß um ihr mitzuteilen, dass er gerade die ersten Mauersegler des Jahres am Himmel entdeckt hatte. Minutenlang hatte er ihr den halben Wikipedia-Eintrag über die kleinen Zugvögel auf die Mailbox gesprochen.
Ein anderes Mal – da war er gerade aus dem Theater gekommen – hatte er ihr einen kompletten Shakespeare-Monolog als Voicemail hinterlassen. Oft rief er sie auch einfach von Konzerten aus an, um ihr Songs, von denen er glaubte, dass sie sie mögen würde, auf die Mailbox laufen zu lassen. Für gewöhnlich rief Nina Tim einfach zurück, wenn sie mehr Zeit hatte. So hatte sie es sich auch dieses Mal vorgenommen. Nur: Sie hatte es nicht getan. Sie hatte es über die langen, hektischen Arbeitstage im Krankenhaus, die ihr alles abverlangt hatten, schlicht vergessen. Ich habe Tim vergessen. Nina kniff die Augen so fest zusammen, dass sie Sternchen sah, und presste die Fäuste dagegen, als könnte sie so die Tränen zurückhalten, die sich schon wieder Bahn brechen wollten. Mein Gott, dachte sie. Er war mein bester Freund, und ich habe mir noch nicht einmal die Mühe gemacht, seine Mailboxnachricht abzuhören. Sie versuchte sich in Erinnerung zu rufen, wann sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Das war bei seiner Ausstellungseröffnung in London gewesen. Wie lange war das her? Ein Jahr? Vielleicht sogar ein bisschen mehr. Tims Gesicht tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Die großen, braunen Augen, das kurze, dunkle Haar, die Grübchen, der Enthusiasmus, die Wärme. Sie erinnerte sich so gut an diesen Abend. Nina hatte Tim dabei zugeschaut, wie er versiert Small Talk betrieb, Interviews gab und für Fotos posierte, während sie sich mit Prosecco betrank und große Augen bekam, als sie die Berühmtheiten erkannte, die sich unter die Gäste der Vernissage gemischt hatten.
Später waren sie noch zu zweit in eine Bar gegangen. Tim, der seit Jahren clean war und nicht einmal mehr Alkohol anrührte, bestellte einen Pinot Grigio für Nina und ein Wasser mit Zitrone für sich und begann, sie über ihr Leben auszufragen, obwohl sein eigenes deutlich interessanter war. Und schließlich war das Thema unweigerlich auf das Dorf gekommen. »Du solltest noch mal hinfahren«, sagte Tim und nippte an seinem Wasser. »Es ist kein schlechter Ort.« Nina schüttelte den Kopf. »Nie wieder. Das habe ich mir geschworen.« Sie dachte an die Kiste. Die, die in der dunkelsten, hintersten Ecke ihres Kellers stand und alle Informationen enthielt, die sie über die Geschehnisse von damals gesammelt hatten. Sie würde sie nie wieder öffnen. »Ich bin fertig mit dem Dorf. Wir werden das letzte Puzzleteil niemals finden. Ich bin fertig mit der Sache. Und ich bin fertig mit den Wäldern.« Sie würde die Kiste wegwerfen, mitsamt ihrem Inhalt. Tim lächelte und zeigte seine Grübchen. »Das verstehe ich«, sagte er. »Aber du könntest einfach so hinfahren!« »Wozu? Ich weiß doch eh, wie es dort aussieht.« »Die Dinge ändern sich«, sagte Tim. »Das tun sie nie«, versetzte Nina. Doch ihr bester Freund ließ nicht locker. »Es wäre gut für dich, als Erwachsene zurückzukehren. Dem Trauma ins Gesicht zu sehen.«
»Ich habe kein Trauma.« Und ich will nicht daran denken. »Warum warst du dann so lange nicht wieder dort?«, fragte Tim. »Weil ich dieses Kaff hasse.« »Tust du nicht. Du hasst nur ein Teil davon. Und glaub mir, das hasse ich auch. Aber es ist nicht das ganze Dorf.« Nina nahm einen großen Schluck von ihrem Wein. Aus irgendeinem Grund nervte es sie, dass Tim immer wieder davon anfing. Sie verstand ihn ja. Er war noch näher dran als sie. Aber trotzdem. Tim tat, als wären sie damals einem Kinderschänder in die Hände gefallen oder so was. »Warum musst du immer wieder mit diesen alten Geschichten anfangen?« Tim zuckte mit den Schultern, so, wie er es paradoxerweise häufig tat, bevor er etwas äußerte, das ihm besonders wichtig war. »Unsere Geschichten bedeuten etwas«, sagte er. »Wo wir herkommen, bedeutet etwas.« »Ja«, antwortete Nina. »Es bedeutet, dass wir Landeier sind.« Tim lachte und gab auf. Sie hatten sich nie wiedergesehen. Der letzte Teil ihres Studiums hatte Nina geschluckt, mit Haut und Haaren. Und Tim reiste ununterbrochen als Fotograf in der Weltgeschichte umher. Aber wäre das so schwer gewesen? Sich die Zeit zu nehmen, einander zu sehen? Klar, sie hatten immer mal wieder gesprochen. Aber am Telefon war es doch nicht dasselbe.
Nina putzte sich die Nase und griff nach dem Handy. Die Nachricht musste sich noch auf der Mailbox befinden. Mit zittrigen Fingern entsperrte sie das Telefon… Ja, da war sie. Siebenundvierzig Sekunden Tim. »Okay«, sagte Nina leise, wie um sich selbst Mut zu machen. »Okay, ich mach das jetzt einfach.« Ihr Zeigefinger schwebte über dem Symbol für Play. Sie zögerte. Plötzlich hatte sie Angst davor, Tims vertraute Stimme zu hören. Was er wohl gewollt hatte? Ihr von einer Ausstellungseröffnung erzählen? Von einer Reise? Einer neuen Eroberung? Nina wappnete sich, dann tippte sie auf Play und presste sich das Telefon ans Ohr. Seine Stimme zu hören war wie ein Schlag in die Magengrube. Nina. Ich bin’s. Bitte ruf mich so schnell wie möglich zurück. Es ist wirklich wichtig. Dann war da eine Pause, so, als hätte er auflegen wollen, es sich aber im letzten Moment anders überlegt. Ich bin ins Dorf zurückgekehrt und… Ich bin hier auf etwas gestoßen. Wir… Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.
Es gab eine kurze Pause.
Die Nacht damals. Erinnerst du dich? Die, über die wir nie wieder gesprochen haben. Die, wegen der wir geschworen haben… Erinnerst du dich? Ich habe es gefunden. Das letzte Puzzleteil. Verstehst du? Ich weiß jetzt alles. Ich habe dir alles aufgeschrieben. Behalte den Brief. Verlier ihn nicht. Okay? Darin steht alles. Und sollte mir etwas passieren, dann wird es an dir sein, zu… Tim unterbrach sich mitten im Satz. Nein. Vergiss diesen letzten Teil. Das war bescheuert von mir. Sorry. Ich bin ein bisschen mit den Nerven runter, aber… Er unterbrach sich erneut, und als er weitersprach, hörte Nina die Entschlossenheit in seiner Stimme. Ich kriege ihn dran. Ich schwöre es dir, Nina. Dieses Mal kriege ich ihn dran. Die Nachricht brach ohne Gruß einfach ab, und Nina legte das Telefon weg. Als sie sich erhob, um ans Fenster zu treten, fühlten sich ihre Beine taub an. Oh, Tim. Selbstverständlich erinnere ich mich. Sie blickte auf die Straße hinab und spürte, wie die innere Unruhe, die die Voicemail in ihr ausgelöst hatte, wuchs. Von welchem Brief redete Tim da?....................