Still Alive – Sie weiß, wo sie dich findet
Als Libby einen Flyer für einen Haustausch im Briefkasten findet, kann sie ihr Glück kaum fassen. Denn ihr Mann und sie brauchen dringend eine Auszeit. In Cornwall angekommen, sind sie überwältigt von der hochmodernen Villa, die dort einsam über der Steilküste thront. Doch dann steht nach einem Strandspaziergang die Tür der Villa offen, obwohl sich Libby sicher ist, sie geschlossen zu haben. Immer häufiger hat sie hat das Gefühl, dass jemand sie beobachtet. Und Libby weiß, das kann nur eines bedeuten: Ihre Vergangenheit ist dabei, sie einzuholen. Und das könnte sie all es kosten …
Broschiert: 464 Seiten
Verlag: Penguin Verlag; Auflage: Deutsche Erstausgabe (8. Juli 2019)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3328101705
ISBN-13: 978-3328101703
Größe und/oder Gewicht: 14,2 x 3,8 x 20,5 cm
Biografie
Claire Douglas arbeitete 15 Jahre lang als Journalistin, bevor sich ihr Kindheitstraum, Schriftstellerin zu werden, erfüllte. Ihr Thriller »Missing« wurde in England zum Bestseller. Claire Douglas lebt mit ihrem Ehemann und ihren beiden Kindern in Bath, England.
Jamie und Libby haben eine anstrengende Zeit hinter sich und wollen sich eine Auszeit gönnen und tauschen mit dem Ehepaar Philip und Tara Heywood die Häuser.
Sie wollen über die Fehlgeburt hinwegkommen und auch den Brand an der Schule wo Libby Lehrerin ist.
Da entdecken sie ein Flugblatt im Postkasten vom Wohnungstausch. Aber ist es Zufall oder ist es geplant mit dem Tausch?
Aber zur Ruhe kommen sie trotzdem nicht, denn im Haus passieren komische Dinge. Aber warum passieren die Dinge ist es wegen der Vergangenheit von Libby oder hat sogar Jamie ein dunkles Geheimnis?
Nach einer Lebensmittelvergiftung brechen die beiden den Tausch ab und kehren in ihr Zuhause zurück. Jamie und Libby hoffen das die Merkwürdigkeiten nun vorbei sind und sie nun endlich aufatmen können aber genau jetzt beginnt der wahre Alptraum.
Warum liegt nun eine Leich im Garten?
Libby glaubt sie weiß nun warum das alles passiert und beichtet Jamie ihre Vergangenheit aber ist das der Schlüssel zu den Geschehnissen?
Das Buch ist flüssig geschrieben und man kommt Super in die Story rein. Es ist aus der Ich perspektive von Libby aus geschrieben.
Auch lässt die Geschichte viel Platz für eigene Spekulationen wieso das alles passiert und wer dahinter Steckt. Und ich muss auch sagen nix ist so wie es scheint.
Es gibt auch viele Wandelungen im Buch so das man immer wieder neu Raten muss (oder man lässt es einfach auf einen zukommen).
Es ist ein Spannendes Buch und ich bin super in die Story gekommen und bin echt total begeistert.
Leseprobe
Prolog
Er hat so schöne Augen, blau wie der Ozean – sie waren schon immer das Beste an ihm. Nun sind sie leblos und glasig wie die einer Porzellanpuppe, starren mit leerem Blick in der Dämmerung zum Himmel empor. Die steinerne Figur entgleitet meiner offenen Hand, rollt auf seinen toten Körper zu und prallt schwer gegen seinen Oberschenkel. Furcht packt mich, sodass ich für einige Sekunden wie angewurzelt dastehe und die Wunde in seinem Schädel anstarre – das Blut, das in einem Bogen aus seiner Schläfe gespritzt ist und den Rasen rot färbt. Dann knie ich mich neben ihn in das feuchte Gras, wobei ich darauf achte, ihn nicht zu berühren. Ich darf keine Spuren hinterlassen. Ich blicke verstohlen auf. Das Gebäude ist über fünfzig Meter entfernt, die Fenster dunkel, manche mit zurückgezogenen Vorhängen, andere mit hochgerollten Jalousien. Hat mich jemand beobachtet? Ich denke schon wie eine Verbrecherin. Hat mich jemand gesehen, hier am anderen Ende des Gartens, zwischen dem Unkraut und dem wuchernden Gras? Hat man mich gesehen, als ich meinen Mann tötete?
TEIL EINS Cornwall
Jamie dreht den Lautstärkeregler am Radio voll auf, sodass wir die Stone Roses über den Fahrtwind hinweghören können, der uns um die Ohren pfeift. Er sieht aus wie einer dieser Wackeldackel, während er im Takt der Musik mit dem Kopf nickt. »Gott, ich liebe dieses Lied!« »Sag bloß«, ziehe ich ihn auf und schneide eine Grimasse, als er anfängt, lauthals mitzusingen. Es entgeht ihm nicht. »Was denn? Immerhin war ich mit achtzehn schon Sänger in einer Band.« Dann drückt er liebevoll meinen Oberschenkel, um mir zu zeigen, dass er nicht beleidigt ist. »Du hättest unser Groupie sein können.« Ich bin versucht, ihn daran zu erinnern, dass er damals mit Hannah zusammen war – sie wäre sein Groupie gewesen –, aber ich will ihm seine Laune nicht verderben. Er wirkt so glücklich wie schon lange nicht mehr. Ich drehe mich zu ihm, um ihn zu mustern, seinen fein geschnittenen Kiefer zu bewundern, der in einer geschwungenen Linie in seinen langen Hals übergeht, die feinen blonden Härchen, die über den Knöpfen seines Polohemds hervorlugen, und spüre sofort das Verlangen in mir aufflackern. Ich lege meine Hand auf seine, die noch immer sanft auf meinem Oberschenkel ruht, und wir verschränken unsere Finger ineinander.
Er erhascht meinen Blick und lächelt, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf die leere, endlose Fahrspur vor uns richtet. »Ich kann es kaum erwarten, das Haus zu sehen«, sage ich. »Wie es wohl ist? Ich hoffe nur, dass es kein Reinfall wird.« Jamie hebt eine Augenbraue. »Ein Reinfall? Das wage ich zu bezweifeln. Hat Philip Heywood es nicht als« – er spricht mit seiner Telefonstimme – »›stattliche Residenz am Meer mit herrlichem Panoramablick über die Bucht‹ beschrieben, oder so ähnlich …« Ich lache. »Nicht ganz.« Er zieht seine Hand zurück und legt sie wieder aufs Lenkrad, um eine Kurve zu nehmen. »Die Roseland-Halbinsel soll atemberaubend sein.« »Bei dem Namen muss sie das auch sein.« »Anscheinend kommt er von rhos, dem keltischen Wort für Heidekraut.« »Warum weißt du so etwas?« Er hebt eine Augenbraue. »Na, weil ich ein Geek bin.« »Allerdings, das bist du«, erwidere ich grinsend. Ich ziehe meinen Mantelkragen weiter hoch, um meinen nackten Hals zu bedecken. Es ist schon Jahre her, dass ich langes Haar hatte, aber gelegentlich vermisse ich die Wärme im Nacken, vor allem in den kälteren Monaten. Die hellen Sonnenstrahlen werden von der Motorhaube zurückgeworfen, doch trotz des klaren blauen Himmels hängt eine gewisse Kühle in der Luft und erinnert uns an die allgegenwärtige Gefahr eines Aprilschauers.
Ich bringe es nicht übers Herz, Jamie zu bitten, das Verdeck des Wagens zu schließen. Er braucht diese Auszeit genauso sehr wie ich – die ersten neun Monate unserer Ehe waren alles andere als leicht. Ich werfe im Spiegel einen Blick auf unseren Golden Retriever Ziggy, der mit geschlossenen Augen und heraushängender Zunge auf dem Rücksitz faulenzt. Es war ein spontaner Entschluss, den Hund mitzunehmen – Katie, Jamies jüngere Schwester, hatte eigentlich versprochen, auf ihn aufzupassen, uns aber wie üblich in letzter Minute hängen lassen. Mir wird etwas übel, als Jamie die nächste scharfe Kurve nimmt, und so versuche ich, mich darauf zu konzentrieren, tief einzuatmen und den Brechreiz zu unterdrücken, während meine Nase verzweifelt nach jener frischen Seeluft sucht, die man uns versprochen hat; doch stattdessen trifft sie nur auf den penetranten Geruch der gelb blühenden Rapsfelder um uns herum. Mein linker Arm juckt unter dem sperrigen Gips und fühlt sich unangenehm schwer an, aber wenigstens konnte ich mich so ums Fahren drücken. Nicht dass Jamie mich noch dazu ermuntern würde, mich hinters Steuer zu setzen – jedenfalls nicht mehr, seit ich uns beide zu Beginn unserer Beziehung beinahe umgebracht hätte, als ich auf eine viel befahrene Bundesstraße bog und dabei nur knapp einen entgegenkommenden Lastwagen verfehlte. Endlich zeichnet sich ein immer größer werdender Fleck in der Ferne ab, der die Eintönigkeit der Landstraße durchbricht – eine einsame kleine Tankstelle, die inmitten der wilden Wälder dasteht wie ein verlorenes Kind.
»Das muss es sein!«, rufe ich und zeige aufgeregt in die Richtung, während ich versuche, mich an die Anweisungen zu erinnern, die Philip Heywood mir vor zwei Tagen am Telefon durchgegeben hat. Jamie hält vor den Zapfsäulen und stellt den Motor ab, woraufhin die Welt für einen Moment zu verstummen scheint. Nach der konstanten Geräuschkulisse aus lauter Musik und rüttelndem Fahrtwind ist die Stille willkommen. Ich empfand Lärm schon immer als stressig und nervenzehrend, doch Jamie liebt laute Musik und dreht sie immer so weit auf, wie er es sich gerade erlauben kann. Jetzt beugt er sich nach hinten und befestigt die Leine an Ziggys Halsband. »Gehst du schon mal rein und holst den Schlüssel, Libs? Ich tanke gleich noch, wenn wir schon mal hier sind. Und dann drehe ich mit Ziggy eine kleine Runde, damit er sein Geschäft erledigen kann.« Er zeigt auf ein zugewuchertes Rasenstück neben dem Tankstellenladen. Ich habe nichts dagegen, da ich froh bin, aussteigen zu können und ein bisschen festen Boden unter die Füße zu bekommen. Der Junge hinter dem Tresen ist kaum den Teenagerjahren entwachsen. Als ich nach dem Schlüssel für das Hideaway, unsere Unterkunft, frage, glotzt er mich nur ratlos aus seinem aknevernarbten Gesicht an. »Ich weiß nichts von einem Schlüssel«, erwidert er, wobei er sich an einem Pickel am Hals kratzt. »Ich hole mal die Chefin. Name?« »Entschuldigung?«
Er schnaubt und gibt sich nicht einmal die Mühe, seine Genervtheit zu verbergen. »Wie Sie heißen?« »Oh … Libby.« »Nachname?« »Elliot … Ich meine, Hall. Mrs. Hall.« Ich bin es von der Arbeit so gewohnt, meinen Mädchennamen zu benutzen, dass ich manchmal vergesse, dass ich nun zu einer anderen Familie gehöre. Er geht gemächlich nach hinten, wobei er die langen schlaksigen Arme schwingt wie ein Affe, dann verschwindet er hinter einer grauen Tür. Der Laden ist winzig, die Regale bis oben hin vollgestellt mit Thunfisch-, Bohnen- und Tomatenkonserven. Ich bin die einzige Kundin. Ich nehme eine Packung Pfefferminzpastillen von dem Ständer vor mir und überfliege die Süßigkeitenauswahl nach etwas für Jamie – am besten etwas mit Kokos, seine Lieblingsgeschmacksrichtung. Dann sehe ich Jamie durchs Fenster zu, wie er den widerspenstigen Ziggy zurück ins Auto bugsiert. Unser Mini Cooper ist der einzige Wagen vor der Tankstelle. Der Junge taucht nicht wieder auf, und mich überkommt das flaue Gefühl, dass die ganze Sache ein ausgeklügelter Schwindel war und es weder einen Schlüssel noch ein Haus am Meer gibt. Doch da eilt eine vollbusige Dame mit blondierter Mähne durch die Tür, von deren wurstigen Fingern ein verheißungsvoller Schlüssel baumelt. »Elizabeth Hall?«, fragt sie mit dem typischen Akzent Cornwalls. Ich nicke. Sie überreicht mir den Schlüssel und lächelt breit. »Sie haben aber ein Glück, im Hideaway unterzukommen. Herrliche Aussicht. Nicht dass ich jemals dort übernachtet hätte – ich wusste gar nicht, dass es vermietet wird.«
Dankbar nehme ich den Schlüssel. »Ich weiß nicht, ob die Besitzer das normalerweise tun. Wir machen einen Haustausch.« Sie reißt erstaunt die Augen auf. »Einen Haustausch? Was für eine fantastische Idee! Das heißt also, die sind bei Ihnen im Haus, während Sie bei denen sind?« Ich schiebe meine Kreditkarte ins Lesegerät. »Ja. Obwohl wir nur eine kleine Wohnung in Bath haben.« »Ich habe gehört, Bath soll ganz reizend sein. Selbst war ich allerdings noch nie dort.« Sie reißt die Quittung ab und reicht sie mir, während ich meine Karte wieder aus dem Gerät ziehe. »Ein Haustausch also. Wirklich eine ganz fantastische Idee.« Ihr Blick huscht über meinen Gips. »Dann erholen Sie sich wohl gerade von einem Unfall, ja?« Am liebsten würde ich entgegnen, sie solle sich gefälligst um ihren eigenen Kram kümmern – und vor ein paar Jahren hätte ich das wohl auch noch getan –, aber diese Zeiten liegen hinter mir. Bei meiner Arbeit kann ich es mir nicht leisten, die Beherrschung zu verlieren. Also schlucke ich meinen Ärger hinunter. Ich kann ihr die Wahrheit nicht sagen – ansonsten würde ich bestimmt den ganzen Tag hier festhängen und ihre Fragen beantworten. »Ich bin ausgerutscht und habe mir den Arm gebrochen«, erkläre ich. Das ist immerhin nur zur Hälfte gelogen. »Auf dem Schulhof. Ich bin Grundschullehrerin.«
Die Frau verzieht das Gesicht. »Oh, das ist ja übel. Hat einer dieser kleinen Quälgeister Sie etwa geschubst?« Ich schüttle den Kopf, zwinge mich zu einem Lachen und erkläre, über ein Springseil gestolpert zu sein, das auf dem Schulhof herumlag, während ich mich gleichzeitig Richtung Ausgang bewege, um diesem Gespräch zu entkommen. »Vielen Dank noch mal«, verabschiede ich mich, mit dem Schlüssel winkend, und husche durch die Tür, bevor sie noch eine Frage stellen kann. Ich sehe durch die Windschutzscheibe, wie Jamie ungeduldig mit den Fingern auf das Lenkrad trommelt. Wir haben uns in letzter Zeit ziemlich oft gestritten, meistens wegen Geld, und ich will das fragile Gleichgewicht, das sich seit der Fehlgeburt wieder zwischen uns eingestellt hat, nicht durcheinanderbringen. Ich lasse mich auf den Beifahrersitz gleiten. »Tut mir leid. Die Frau wollte einfach nicht aufhören, mir Löcher in den Bauch zu fragen.« Seine Miene verfinstert sich. »Was für Fragen?« »Oh, wegen des Gipses und wie es passiert ist.« »Du hast es ihr doch nicht etwa erzählt?«, fragt er ungewöhnlich harsch. »Nein, natürlich nicht.« Ich ziehe mir den Sicherheitsgurt über die Schulter. »Gut. Wir wollten das Ganze doch endlich hinter uns lassen. Hat sie dir den Schlüssel gegeben?« Ich halte ihn wie zum Beweis hoch. Er ist an einem Anhänger befestig einem kleinen Kristallherz, das in der Sonne glitzert.
Jamie entspannt sich sichtlich. »Gott sei Dank! Ich dachte schon, das alles wäre ein Fehler gewesen. Du weißt doch, wie es so schön heißt: Zu gut, um wahr zu sein …« Ich beuge mich zu ihm und küsse ihn auf die zarte Stelle unterhalb des Ohrläppchens, wobei ich seine weichen Bartstoppeln an meinen Lippen spüre. Ich bin froh, dass er so aufgeregt wegen dieser Sache ist. Dass er allmählich seinen alten Schwung zurückgewinnt. Das habe ich von Anfang an an ihm geliebt – seine Lebensfreude, seine Begeisterungsfähigkeit. Eigentlich ist er einer dieser Menschen, für die das Glas immerzu halb voll ist; aber erst die Kündigung und dann die Selbstständigkeit sowie die daraus resultierenden Geldsorgen hatten nun einmal ihren Tribut gefordert. Während der letzten Monate habe ich mit ansehen müssen, wie sein Optimismus zusehends schwand, wie der Glanz einer alten angelaufenen Münze. Als wir uns die nächste schmale Landstraße hinabschlängeln, die zu beiden Seiten von dichten, mit weißen Blüten gesprenkelten Hecken gesäumt wird, schreit Jamie auf: »Das muss es sein!« Seine Begeisterung bringt den leichten südwestenglischen Akzent zum Vorschein. Er deutet über die T-Kreuzung vor uns. Ich folge seinem Finger mit dem Blick und … Er irrt sich doch bestimmt, oder? Das Haus ist riesig, größer noch als das seiner Mutter. »Das kann nicht sein«, erwidere ich, als Jamie in die Einfahrt biegt. Der Kies knirscht unter den Reifen, als uns die näselnde Stimme des Navigationsgerätes darüber informiert, dass wir unser Ziel erreicht haben. Das Auto kommt zum Stehen, und Jamie macht den Motor aus.
Wir sitzen in ehrfürchtiger Stille da und lassen das frei stehende, rechteckige Gebäude auf uns wirken, das auf einer Seite von einem runden Erkerturm geziert wird; es ist aus traditionellem rauchgrauem Stein und Glas erbaut. Eine Kletterpflanze rankt sich bis zur halben Höhe an den Mauern empor, sodass es so aussieht, als hätte das Haus einen Bart. Bäume und Büsche in unterschiedlichen Grünschattierungen rahmen es ein, als würden sie es in ihre Arme schließen. Hinter dem Anwesen erstreckt sich ein funkelndes blaues Band am Horizont, das Meer. Die einzigen Geräusche sind das fröhliche Zwitschern der Vögel und das entfernte Rauschen der See. Ich kann das Salz in der lauen Brise riechen, durchzogen von einer leichten Spur Pferdedung. »Es ist ziemlich abgeschieden«, bemerke ich etwas überwältigt. Ich bin auf dem Land aufgewachsen – ein kleines zweistöckiges Reihenhaus in einer recht überschaubaren Sozialsiedlung in North Yorkshire –, aber den Großteil der vergangenen neun Jahre habe ich in der Stadt verbracht. Ich bin es gewohnt, Nachbarn zu haben. Von Menschen umgeben zu sein, gibt mir ein Gefühl von Sicherheit, und ich fühle mich weniger ängstlich. »Es ist unglaublich!«, sagt Jamie strahlend. »Ich kann gar nicht fassen, dass wir hier wohnen werden. Gute Entscheidung, Libs!« Er atmet tief durch die Nase ein. »Ah, riech mal … diese Luft. So frisch und sauber. Keine Verschmutzung, keine Abgase.« Ja, dafür Kuhscheiße, will ich erwidern, aber ich beiße mir auf die Zunge. Ich kann förmlich dabei zusehen, wie die Spannung der letzten Monate von ihm abfällt und er sich in den Mann zurückverwandelt, den ich geheiratet habe.
Als ein Eichhörnchen einen nahen stehenden Baumstamm hinaufrennt, bellt Ziggy auf dem Rücksitz los – ein tiefes »Wuffwuff«, das die Stille zerreißt – und zerrt ungeduldig an seinem Gurt. Jamie lacht und beugt sich nach hinten, um Ziggy loszumachen und die Leine an seinem Halsband zu befestigen. »Los geht’s, mein Junge! Ich weiß, du kannst es kaum erwarten, die ganze Umgebung auszukundschaften.« Jamie steigt aus dem Wagen und eilt um die Motorhaube, um mir die Tür zu öffnen. »Wirklich sehr galant«, kichere ich, zucke jedoch vor Schmerz zusammen, als ich aufstehe. Jamie runzelt die Stirn. »Alles okay, Libs?« »Ich kann es nur kaum erwarten, diesen verfluchten Gips endlich loszuwerden, das ist alles. Das Ding macht alles so furchtbar kompliziert.« »Nicht mehr lange, meine kleine Heldin.« Ich stoße ihn mit dem gesunden Arm in die Seite. »Hör auf, dich über mich lustig zu machen.« Er drückt mir einen Kuss auf die Stirn. »Ich mache mich nicht lustig, du bist eine Heldin«, raunt er. »Vergiss das nicht.« Dann wird er von Ziggy mitgerissen, und ich folge ihnen zaghaft, wobei ich innerlich jeden Moment damit rechne, dass der wütende Besitzer aus dem Haus stürmt, um uns von seinem Anwesen zu verjagen. Als Jamie mein Zögern bemerkt, winkt er mich zu der Eingangstür aus anthrazitfarbenem Aluminium, die so sauber und auf Hochglanz poliert ist wie der Rest des Hauses.
Philip Heywood hat mir am Telefon gesagt, dass es erst kürzlich komplett renoviert worden ist. Jamies Augen leuchten auf, als er von dem Stück Papier in seinen Händen aufblickt. »Es ist das richtige Haus. Schau …«, verkündet er, wie um sich selbst noch einmal zu vergewissern. Er tippt mit dem Finger auf das Papier und zeigt dann auf die Schieferplatte neben der Tür, in deren Oberfläche The Hideaway eingraviert ist. »Passender Name für die Hütte. Es gibt im Umkreis von einer halben Meile kein anderes Haus. Außerdem ist es gar nicht weit weg von Lizard Point. Ich wollte schon immer mal den Leuchtturm dort besichtigen.« Er klingt wie einer meiner sechsjährigen Schüler. Einen Moment lang verspüre ich ein schlechtes Gewissen, dass wir unsere schäbige Dreizimmerwohnung in Bath, samt Hundehaaren und Tierfuttermief, gegen solch ein herrschaftliches Domizil eingetauscht haben. Unsere Wohnung befindet sich nicht einmal in einem georgianischen Gebäude, wie man es in Bath erwarten könnte, sondern stammt nur aus dem späten 19. Jahrhundert. »Glaubst du, es war in Ordnung, Ziggy mitzubringen? Ich habe überhaupt nicht daran gedacht zu fragen.« Jamie reißt die Augen auf. »Scheiße, Libs, warum hast du das nicht abgeklärt? Ich habe keine Ahnung.« »Ich dachte doch nicht, dass es so ein großes, piekfeines Haus wäre. Philip meinte, es wären immer noch Bauarbeiten im Gang, also ging ich davon aus, es wäre etwas …« Ich halte inne, um die gepflegten Beete und Hecken zu mustern, die die Einfahrt säumen »… unfertiger.«
Meine Befürchtungen bestätigen sich, sobald wir über die Türschwelle treten. Es ist definitiv kein Haus, in das man seinen haarenden Hund mitbringen sollte. Alles ist so unglaublich weiß: die Sofas, die Teppiche, die Wände. Ich weiß jetzt schon, dass wir irgendwas schmutzig machen werden – wir mit unserer chaotischen Art und Ziggy mit seinen dreckigen Pfoten. Bis auf einen Haufen Bauschutt neben einem Baum am anderen Ende des Gartens gibt es kaum einen Hinweis darauf, dass kürzlich erst renoviert wurde. Ich nehme Jamie die Leine aus der Hand, da ich Angst habe, Ziggy loszulassen. Während ich in die Küche gehe, werde ich das Gefühl nicht los, dass wir uns hier unerlaubterweise aufhalten. Es ist ein riesiger offener Kochbereich mit weiß lackierten Schränken und marmornen Arbeitsflächen. Die faltbaren gläsernen Terrassentüren gehen auf einen weitläufigen Garten hinaus und eröffnen den Blick auf den ausgedehnten Strand darunter. »Schau dir das an, Jay!«, rufe ich, als ich den Kopf in den überdimensionierten amerikanischen Kühlschrank stecke. Beim Anblick des Essens läuft mir das Wasser im Mund zusammen. »Hier drin gibt es genug Nahrungsmittel, um eine zehnköpfige Familie zu ernähren.« Jamie gesellt sich zu mir, um ebenfalls einen Blick hineinzuwerfen. »Oh, sie haben Pâté, Räucherlachs, einen dicken Laib Stiltonkäse … und schau dir all die Craft-Biere an!« Er wendet sich mit einem Grinsen zu mir. »Das hier ist das Paradies!«
»Dafür ist unser Kühlschrank so gut wie leer«, sage ich und denke beschämt an den halben Liter Milch und den angetrockneten Schinken zurück, den ich liegen gelassen habe. Ich bin noch nicht einmal auf die Idee gekommen, den Kühlschrank für unsere Gäste aufzufüllen. »Mach dir deswegen keine Sorgen, die haben wichtigere Probleme.« Er schlendert zur Kücheninsel und greift nach einem abgerissenen Notizzettel, der dort liegt. »Hier steht, wir dürfen uns nach Belieben beim Essen bedienen. Ist das nicht spendabel von ihnen?« Er wartet meine Antwort nicht ab, sondern wirft den Zettel zurück und spaziert weiter durch die Küche, wobei er über die modernen Gerätschaften streicht und an diversen Reglern und Knöpfen herumfingert. »Wow, diese Küche ist der Hammer!«, ruft er, als ein 20-Zoll-Flachbildschirm nahtlos aus der Arbeitsfläche der Kücheninsel auftaucht. Ich lächle in mich hinein, wohl wissend, wie gerne Jamie das nötige Kleingeld hätte, um es für die neuesten technischen Spielereien ausgeben zu können. »Du kannst später noch herumtüfteln«, sage ich und ziehe ihn von der Hightechkaffeemaschine weg, die vom Design her an ein Raumschiff erinnert. »Lass uns erst den Rest auskundschaften.« Ich lasse Ziggy von der Leine, und Jamie nimmt meine Hand. Wir rennen durch das Haus wie zwei übergeschnappte Teenager, während Ziggy uns mit einem fröhlichen Bellen hinterherjagt. Im gesamten Haus ist massives Eichenparkett verlegt, und im weitläufigen Wohnzimmer schwingt sich eine beeindruckende frei schwebende Glastreppe zum ersten Stock empor.
Die kalkweißen Wände werden von bunten abstrakten Gemälden geziert, und im Wohnzimmer hängt eine riesige Porträtaufnahme einer Frau, die Tara Heywood sein muss – den Kopf in den Nacken geworfen, die großen braunen Augen kokett verdreht. Oben angelangt stecke ich den Kopf durch die erstbeste Schlafzimmertür und sehe ein Klappsofa sowie ein verblichenes antikes Puppenhaus. An einer Wand steht ein mit Spielzeug vollgestelltes Regal – kein modernes Spielzeug, wie es meine Kids aus der Schule haben, sondern altmodische, geradezu gruselige Sachen. Ein paar Kasperlefiguren lehnen zusammengesackt an einer Porzellanpuppe mit fehlendem Bein, und ein hässlicher Clown steht gleich neben einem ausgestopften Wiesel. Das wird doch wohl nicht das Zimmer ihrer Tochter sein, oder? Als Kind hätte ich hier drin jedenfalls Albträume bekommen. Die anderen zwei Schlafzimmer sind größer, außerdem gibt es auch ein traditionelles Arbeitszimmer, in dem ein massiver Schreibtisch mit lederbezogener Arbeitsfläche steht. Ich trete ein. Die Wände sind mit Bücherregalen gesäumt, auch wenn sie so gut wie leer sind bis auf ein paar abgewetzte Liebesromane, ein Oldtimer-Handbuch sowie eine mehrbändige Enzyklopädie. Ich zähle drei weitere ausgestopfte Tiere: ein Frettchen, einen Fuchs und ein traurig dreinblickendes Nagetier, das ein bisschen an eine Ratte erinnert, aber genauso gut ein Maulwurf sein könnte. Ganz am Ende des Flurs, in dem runden Erkerturm, befindet sich das Schlafzimmer der Heywoods. Es ist mit Abstand der größte Raum, und er verfügt über ein eigenes Bad und einen separaten Ankleideraum.
»Wow, das ist ja größer als unsere ganze Wohnung«, staune ich und blicke fasziniert zu den deckenhohen Fenstern, dem Himmelbett mit den fließenden weißen Musselinvorhängen und der frei stehenden Klauenfußbadewanne. Hier hängt eine weitere Porträtaufnahme von Tara, diesmal in SchwarzWeiß und mit ernsterem Gesichtsausdruck. Ich trete ans Fenster und schaue auf den Strand unterhalb des Anwesens. Es ist keine Menschenseele zu sehen. Geradezu idyllisch. »Ich hatte nicht erwartet, dass es derart modern und opulent ist«, sage ich, als Jamie sich neben mich stellt. »Ich dachte, es wäre eine urige, gemütliche Hütte oder so was in der Art.« »Gefällt es dir etwa nicht?«, fragt Jamie verblüfft. »Nein … nein, das ist es nicht. Es ist unglaublich. Ich meine, wirklich unglaublich. Das ist so ein Haus, das man sonst nur in Filmen sieht. Es muss Millionen wert sein. Ich finde nur … es scheint mir einfach kein fairer Tausch.« Jamie zuckt die Achseln und legt einen Arm um mich. »Vergiss nicht, dass sie es so wollten. Die ganze Sache war ihre Idee.« »Ich weiß …« Er seufzt. »Hör mal, Libs, das Haus ist ein echter Glückstreffer.« Ich wende mich zu ihm, mustere die dunklen Ringe unter seinen Augen, seinen blassen Teint und schiebe mein Unbehagen beiseite. Die frische Meeresluft hier in Cornwall wird ihm guttun. Und mir ebenso. Ich berühre unsicher meinen Bauch, was Jamie nicht entgeht.
»Wir brauchen diesen Urlaub«, sagt er. »Du brauchst ihn. Nach der Sache, die an der Schule passiert ist, und der Fehlgeburt …« Tränen schießen mir in die Augen, und ich blinzle sie schnell weg. Ich kann jetzt nicht daran denken. Ich bin hierhergekommen, um zu vergessen. Um zu genesen. »Du hast recht«, erwidere ich mit belegter Stimme. »Es ist ein wunderschöner Ort. Wir haben wirklich großes Glück.« »Wir werden einfach darauf achtgeben, dass es schön sauber und ordentlich bleibt.« Er zieht eine Grimasse, und ich kann die Belustigung aus seiner Stimme heraushören. Unser Hang zur Unordnung ist schon zum Dauerwitz zwischen uns geworden, und wir machen uns einen Riesenspaß daraus, uns gegenseitig zu beschuldigen, der schlimmere Chaot zu sein. Ich mustere Jamie, der sich immer noch kleidet wie ein Student, mit seinen ausgebleichten, löchrigen Jeans. »Wir hätten unsere Schuhe ausziehen sollen«, bemerke ich mit einem demonstrativen Blick auf seine schmuddeligen Chucks. »Außerdem werden wir Ziggys Pfoten sauber halten müssen. Wir hätten doch diese Hundesocken kaufen sollen, die wir in der Tierhandlung gesehen haben.« Ich kichere, als ich mir Ziggy in flauschigen Söckchen vorstelle. Das würde er uns niemals verzeihen. Jamie stößt ein lautes, herzhaftes Lachen aus, das im ganzen Haus widerhallt und das ich in den letzten Monaten nicht oft gehört habe. Mein Herz hüpft vor Freude. »Weißt du, was wir tun sollten?«, fragt er mit einem schelmischen Funkeln in den Augen und nimmt meine Hand.
»Nein, was denn?« Er nickt mit dem Kopf in Richtung Bett. »Wir werden es einweihen müssen.« Ich hebe eine Augenbraue. »Ach, wirklich? Jetzt sofort?« »Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.« Er hebt mich mühelos hoch – er ist über einen Kopf größer als ich – und trägt mich zum Himmelbett. Wir lassen uns mit verschlungenen Gliedern auf die weichen Baumwolllaken fallen, und Jamie beginnt, meinen Hals zu küssen, so wie ich es am liebsten mag. Ich schlinge meine Beine um ihn, presse meinen Körper gegen seinen und fühle mich dabei so glücklich und zufrieden wie seit Monaten nicht mehr. Wir verbringen eine Ewigkeit im Bett und nehmen uns die Zeit, unsere Körper zu erforschen, genauso wie wir es am Anfang unserer Beziehung taten – bevor wir heirateten, bevor die Dinge kompliziert wurden. Vor den Einmischungen seiner Familie und Hannahs unauffälliger, doch nervtötender Präsenz in unserem Leben. Danach schmiege ich mich an Jamies Schulter. Es fühlt sich unnatürlich an, auf meiner rechten Seite zu liegen, aber ich darf den Gips nicht belasten. Er fühlt sich so furchtbar schwer und sperrig an. Nur noch zwei Wochen, beruhige ich mich. Eine Weile schaue ich zufrieden auf die untergehende Sonne, die draußen lange Schatten auf den Rasen wirft. Dann erhebe ich mich schwungvoll aus dem Bett und wickle mich vorsichtshalber in ein Laken, da die Fenster über keine Vorhänge verfügen.
»Wohin gehst du?«, murmelt Jamie und zieht die Daunendecke um seine Achselhöhlen zusammen. »Na, in Taras Kleiderschrank herumschnüffeln, natürlich«, verkünde ich und hebe verschmitzt die Augenbraue. »Libs! Das kannst du doch nicht machen!« »Ach komm schon. Als ob du nicht neugierig wärst! Willst du nicht auch mehr über Philip und Tara Heywood erfahren?« »Eigentlich nicht«, erwidert er mit einem trägen Lächeln auf den Lippen. »Nun, ich schon.« Ich gehe in meiner provisorischen Toga zum Ankleidezimmer. Ziggy folgt mir und streckt sich auf dem flauschigen Teppich aus. Der Raum hat ungefähr die Größe unseres Schlafzimmers zu Hause. An einer Wand ist ein deckenhoher Spiegel befestigt, direkt daneben steht ein gepolsterter Stuhl. Das Ambiente erinnert an einen Anproberaum in einer noblen Boutique; dabei ist das noch nicht einmal der Hauptwohnsitz der Heywoods, sondern nur das Ferienhaus. Was in mir die Frage aufwirft, wie wohl ihr richtiges Haus aussieht. Ich gehe die Klamotten durch: lange Abendroben, leichte Sommerkleider, wallende Röcke und Tops aus seidenzarten Stoffen. Ich ziehe ein langes smaragdgrünes Kleid von einem der Bügel und halte es vor mich, um mich darin zu bewundern. Es ist viel zu lang, und der überschüssige Stoff legt sich wie eine Pfütze um meine Füße – ich sehe aus wie ein kleines Mädchen, das die Kleider seiner Mutter anprobiert. Dank meiner kurzen Haare eigentlich sogar wie ein kleiner Junge. Ich hänge das Kleid an seinen Platz zurück und öffne eine Schublade mit Unterwäsche. Darin befindet sich eine Sammlung von sexy Tangas und hochwertigen Spitzencorsagen.
Ich erkenne sogar ein Teil wieder, das ich mal auf der Agent-Provocateur-Website gesehen habe. Alles ist stilvoll und weit außerhalb meines finanziellen Budgets. Hier gibt es nichts Abgeschmacktes oder Billiges zu entdecken. Dann wende ich mich den Schuhen zu. Sie befinden sich in schmalen Metallregalen, die man aus der Wand herausziehen kann, und umfassen alle erdenklichen Farben und Modelle. Allesamt Designermarken, darunter einige, von denen ich noch nie gehört habe. Ich muss an meine zerschlissenen Ballerinas denken, die ich bei Top Shop gekauft habe, während ich ein Paar todschicker roter High Heels in den Händen halte – Größe vierzig, drei Nummern zu groß für mich. Bedauernd stelle ich sie wieder zurück. »Ich kann mir noch nicht einmal ihre Schuhe ausleihen«, jammere ich, als ich in das Himmelbett zurückklettere. »Sie ist eine Riesin. Oder ein Supermodel.« »Oder ein Alien«, schlägt Jamie vor. »Ein sehr attraktives Alien«, erwidere ich lachend. »Schon schräg, was für ein Leben die oberen Zehntausend führen, was?« Er zieht mich in seine Arme. »Tja, diese Woche sind wir die oberen Zehntausend, Libs«, flüstert er in mein Haar. »Also lass es uns genießen.«……………………………