Als Luca verschwand
Erscheinungstermin: 08. Juli 2019
512 Seiten
Die junge Mel ist in einem Drogeriemarkt, als ihr kleiner Sohn Luca verschwindet. Hat ihn die merkwürdige Frau vor dem Schaufenster aus dem Kinderwagen genommen? Warum ließ Mel ihr Baby an einem eisigen Januartag im Wagen draußen vor dem Laden stehen? Oder hatte sie Luca gar nicht dabei? Ein heikler Fall für Kommissar Klinkhammer, denn er kennt die Familie gut und weiß, dass es in Mels Ehe nicht zum Besten steht. Eine Familientragödie nimmt ihren Lauf. Und mit jeder Stunde, die vergeht, wird es unwahrscheinlicher, dass Luca überlebt.
Biografie
Petra Hammesfahr wurde mit ihrem Bestseller »Der stille Herr Genardy« bekannt. Seitdem erobern ihre Spannungsromane die Bestsellerlisten, werden mit Preisen ausgezeichnet und erfolgreich verfilmt, wie aktuell »Die Sünderin«. Der Roman wurde unter dem Titel »The Sinner« mit Jessica Biel in der Hauptrolle als erfolgreiche Netflix-Serie produziert.
Dies ist nun das erste Buch was ich von Petra Hammesfahr gelesen habe und weiß so nicht wie ihre anderen Bücher sind.
Dieses Buch ist naja wie soll ich sagen nicht so mein Ding, der Klappentext hört sich super Spannend an und verspricht einen Spannenden Roman aber für mich war es das leider nicht.
Ich muss sagen eigentlich habe ich so in allen Büchern eine Person die ich mag und wo ich das alles irgendwie mitfühlen kann, aber hier war es nicht so. Es gab wirklich nicht eine Person mit der ich irgendwie eine Art Mitgefühl oder eine Art Sympathie fühlen konnte.
Die Mutter ist für mich selber Schuld an dem was ihr zugestoßen ist und irgendwie kommt bei mir kein Mitgefühl auf auch als man nachher so etwas mehr über sie erfährt da ist es dann sogar noch schlimmer den wie kann man einer verwirrten Person überhaupt ein Kind alleine anvertrauen.
Es war auch sehr schwerfällig das lesen und ich wollte es schon paarmal abbrechen aber einzig Luca hat mich auf das Ende neugierig gemacht.
Ich muss echt sagen es hat mich echt enttäuscht man hätte so viel aus so einer Story machen können wie es im Klappentext beschrieben wurde aber leider kam bei mir außer Langeweile und Wut über die Mutter nix bei rum.
Leseprobe
Der Roman Anni Erzig steht vor den Trümmern ihres zuvor glücklichen Lebens, als erst ihr Mann und ein Jahr später ihr kleiner Sohn stirbt. Seitdem glaubt sie an überirdische Mächte und verhält sich seltsam. Aber wäre sie in der Lage, einen Säugling zu entführen? Anni ist die erste Verdächtige, als Klinkhammer und Kollegin Rita Voss den Fall Luca übernehmen. Doch der Kommissar nimmt sich auch die Familie des Kindes vor. Und diese Familie kennt er gut. Gabi, die Großmutter, hat ihren Enkel noch nie gesehen. Könnte sie der verhassten Schwiegertochter einen Denkzettel verpasst haben? Und welche Rolle spielt der Kindsvater Martin in dem Drama? Steckt er mit dem vermeintlichen Entführer unter einer Decke, um sich an dem Lösegeld zu bereichern? Kommissar Klinkhammer weiß, was Menschen einander antun können und dass Kinder immer Opfer sind …
TEIL 1
Die Frau im Poncho
Zeugen Der Vormittag war hektisch, weil sie nur zu dritt waren. Seit Wochenbeginn fehlte eine Kollegin − krankheitsbedingt, und das nicht zum ersten Mal, doch die Zentrale sah nicht ein, für Ersatz zu sorgen. Für den Nachmittag erwartete Jutta Meuser den gewohnt stressigen Freitagsbetrieb. Jetzt über Mittag war es noch ruhig, aber Zeit zum Verschnaufen blieb trotzdem nicht. Helene Matthies ging um halb zwei in die Pause. Zu dem Zeitpunkt hielten sich nur drei Kunden im Laden auf. Weiter hinten konnten sich zwei Stammkundinnen, beide weit über siebzig, wieder mal nicht entscheiden, ob sie rote oder weiße Grablichter nehmen sollten. Und am Foto-Sofort-Drucker ließ sich ein scheinbar begriffsstutziger Mann in den Dreißigern, den Jutta bisher noch nie hier gesehen hatte, von Ilonka Koskolviak erklären, wie Bilder von einem USB-Stick auf den Automaten geladen werden konnten. Entweder versuchte der Typ zu flirten, oder er nahm Ilonka wegen ihres Akzents nicht für voll und machte sich lustig über sie. Jutta tippte auf Letzteres. Kurz zuvor hatte er sich nämlich schon ausführlich von Ilonka beraten lassen, welches Deo am besten zu ihm passte.
Den Vorschlag hatte er auch gekauft und brav an der Kasse bezahlt. Dann war er noch mal umgekehrt und hatte Ilonkas Dienste erneut in Anspruch genommen. Die Frau, die kurz nach halb zwei hereinkam, war keine Stammkundin, in den letzten Wochen hatte Jutta sie jedoch schon öfter abkassiert, bisher immer am Freitagvormittag zwischen elf und zwölf. Eine von denen, die sogar Kleckerbeträge mit Karte zahlten und vermutlich selten übersehen wurden. Platinblond, flotte Kurzhaarfrisur, mindestens eins achtzig groß und so dürr, dass Jutta sich fragte, ob sie sich wohl zwei oder drei Wattebällchen zum Frühstück gönnte. Mit Orangensaft getränkt, den die superdünnen Models angeblich bevorzugten, oder lieber mit Apfelschorle, weil die weniger Kalorien hatte? Hübsch war sie, das ließ sich nicht leugnen, und perfekt gestylt. Für Anfang Januar vielleicht zu dünn angezogen. Draußen waren es nur knapp über null Grad, aber wenn man mehr Wert aufs Äußere legte als auf die Gesundheit … Knallenge schwarze Jeans, schwarzes Raulederjäckchen, das nur bis zur Taille reichte. Flache Wildlederstiefeletten mit Strassapplikationen. Bei ihrer Größe waren höhere Absätze auch nicht zu empfehlen. Das Gesicht so perfekt geschminkt, als wolle sie gleich zum Casting für Germany’s Next Topmodel. Doch dafür war sie wohl schon etwas zu alt. Jutta schätzte sie auf Mitte zwanzig, war selbst achtundfünfzig und mindestens sechzig Kilo schwerer. Ihren Platz an der Kasse hatte sie nur ungern verlassen. Aber wo gerade nichts los war, blieb ihr nichts anderes übrig, als in gebückter Haltung die Kästen unter den Regalen mit Schaumfestiger und Haartönung aufzufüllen und dabei weiter die Kundschaft zu beobachten, so gut es eben ging.
Bisher hatte die Blonde jedes Mal einen dreirädrigen Kinderwagen mit einem ausnehmend hübschen Baby dabeigehabt. Eins von den Kindern, bei denen man sich unwillkürlich fragte, welche Gene man haben musste, um so was Süßes auf die Welt zu bringen. Diesmal brachte sie einen etwa dreijährigen Jungen mit, vom Aussehen her der größere Bruder des Babys. Handy am linken Ohr, den Jungen an der rechten Hand mit sich zerrend, steuerte sie den Stapel Körbe an, gab dabei ihren Standort durch, wie das heutzutage bei jungen Leuten üblich zu sein schien, und wollte wissen: »Wo bist du denn gerade?« Jutta, die keine zwei Meter entfernt am Boden hockte, wurde keines Blickes gewürdigt. Weiterplappernd − jetzt ging es um einen Hustensaft, der supergut wirkte − nahm sie einen Korb und ließ dafür den Jungen los. Der machte sich augenblicklich in Richtung der Süßigkeiten davon. Einige lagen in Griffhöhe von Kinderhänden, aber ihn hatte Jutta gut im Blick. »Nichts anfassen, Max«, mahnte die Blonde im Weitergehen, ohne sich nach dem Jungen umzudrehen. Das hättest du wohl gerne, dachte Jutta und sah im nächsten Moment verblüfft, wie der kleine Mann beide Händchen auf dem Rücken verschränkte. Schien gut erzogen, das Kerlchen, hätte Jutta dem hübsch angemalten Knochen gar nicht zugetraut. Solche waren meist derart mit sich selbst beschäftigt, dass keine Zeit für andere blieb. Und Kindererziehung war kein Job, den man zwischen Kleiderschrank und Schminkspiegel erledigte. Jutta hatte zwei Söhne, mittlerweile waren sie erwachsen, aber früher ganz schön anstrengend gewesen. Die Blonde bog in den Gang mit Babynahrung ein. Vorübergehend sah Jutta sie nicht mehr. Sie hätte sich aufrichten müssen, um in einem der an strategisch wichtigen Punkten im Laden angebrachten Spiegel verfolgen zu können, was die Dürre tat.
Das war ihr zu mühsam und auch nicht nötig. Die Frau kam bereits wieder zurück in den Hauptgang, den Jutta in voller Länge einsehen konnte. Im Korb lagen zwei Gläschen fürs Baby. Der kleine Junge stand noch schmachtend vor den Süßigkeiten. Er war entschieden wärmer bekleidet als seine Mutter: Stiefelchen, dick gefütterter Anorak, auf dem Kopf eine von diesen Plüschmützen mit Ohren. Damit sah er von hinten aus wie ein Teddy. Offenbar wurde ihm langweilig. Mit unverändert auf dem Rücken verschränkten Händen schaute er sich nach seiner Mutter um. Die hatte vor dem Ellen-Betrix-Regal haltgemacht und studierte die Lippenstiftauswahl. Das Handy hatte sie eingesteckt, den Korb vor dem Regal abgestellt. Von seinem Standort aus konnte der Kleine seine Mutter nicht sehen. Doch statt sich auf die Suche nach ihr zu machen, lief er zum Eingang und − da die Tür automatisch aufglitt − zwei Schritte ins Freie. Jutta wollte die Frau schon aufmerksam machen, weil sie befürchtete, das Kerlchen könne entwischen. Aber er lugte nur um die Ecke zur Sparkassenfiliale nebenan, kam zurück in den Laden und hatte anschließend seinen Spaß daran, dass die Tür auf- und zuging, wenn er zwei Schritte vor oder zurück machte. Sollte er sich amüsieren, so kam wenigstens etwas frische, kalte Luft herein. Leider verlor er nach zweimal hin und her die Lust an dem Spiel und blieb draußen stehen. Schade. Seit Wochen war es viel zu warm im Laden, Jutta hatte es der Zentrale schon mehrfach gemeldet, bisher ohne Ergebnis. Die stickige Luft machte sie kurzatmig. Die gebückte Haltung verursachte ihre schmerzenden Kniegelenke.
Sie sehnte sich nach ihrem Platz an der Kasse. Aber noch machte niemand Anstalten, sich diesem Bereich zu nähern. Die alten Frauen mit den Grablichtern hatten sich wie üblich für weiße entschieden und palaverten jetzt vor den Haushaltsreinigern. Wie jedes Mal diskutierten sie über diverse Werbespots und griffen irgendwann zu Bewährtem. Der Mann am Foto-Sofort-Drucker erhielt wohl einen Anruf, jedenfalls zog er ein Handy aus einer Jackentasche, warf einen Blick aufs Display, verabschiedete sich mit Handschlag von Ilonka und verließ den Laden ohne Fotos oder sonst etwas, was ihn gezwungen hätte, noch einmal die Kasse anzusteuern. Im Hinausgehen hörte Jutta ihn sagen: »Alles klar, bin schon fast bei dir.« Draußen rannte er beinahe den Jungen über den Haufen. Mit einem Griff an die Jacke des Kleinen verhinderte er, dass das Kerlchen stürzte. Anschließend fuchtelte er mit beiden Armen herum und machte: »Buh«, als wolle er den Jungen noch zusätzlich erschrecken. Zwei Teenies kamen dazu. Der Blödmann steckte sein Handy ein und sagte irgendwas von einer Freundin. Jutta verstand nur das eine Wort. Die beiden Mädchen fanden den kompletten Satz anscheinend wahnsinnig komisch und gackerten los wie alberne Hühner. Der Mann wandte sich nach links wie die meisten, die motorisiert waren. Zwar gab es Parktaschen an den Straßenrändern, aber eine Lücke zu finden konnte dauern. Und ein paar Meter weiter, neben der Sparkassenfiliale, führte ein Durchgang zum großen, zentral gelegenen Schlossparkplatz. Die Mädchen drehten sich noch mal kichernd nach dem Blödmann um, ehe sie hereinkamen und sich geradewegs zu dem Hungerhaken in den Kosmetikbereich gesellten, wo sie weiter herumalberten. Doch nun passten mit Ilonka zwei Leute auf.
Obwohl alle Waren gegen Diebstahl gesichert waren, hatte man in letzter Zeit nicht Augen genug. Es wurde viel geklaut. Dreimal die Woche mindestens schlug die Warensicherungsanlage an. Einige blieben stehen und redeten sich mit einem Versehen heraus. Anderen hauten ab, und wenn man nicht schnell genug hinterherkonnte … Die Blonde hantierte inzwischen vor dem Manhattan-Regal mit Lippenstiften, als könne sie sich nicht für eine Farbe entscheiden. Ob sie drei oder vier verschiedene in der Hand hielt, konnte Jutta nicht erkennen und blieb in erhöhter Alarmbereitschaft. Auf ihre Menschenkenntnis bildete sie sich eine Menge ein, hatte schon mehr als einer Person an der Nasenspitze, dem Gesichtsausdruck, der Körperhaltung oder dem Gefummel mit Kleinteilen angesehen, dass man sie im Auge behalten musste. Der kleine Junge stand immer noch draußen. Als Jutta genauer hinschaute, hatte sie den Eindruck, dass jemand mit ihm sprach. Er hielt das Köpfchen so, als schaue er zu einer größeren Person auf. Zu sehen war aus Juttas Position niemand, und plötzlich hatte sie ein komisches Gefühl. Im September sollte es in Blerichen eine Beinahe-Entführung gegeben haben. Ein Mädchen war von einer Frau aus einem Auto heraus angesprochen und gebeten worden, einzusteigen und den Weg zu zeigen. Das Mädchen war so schlau gewesen wegzulaufen. Wenn sich nun jemand so ein Kerlchen schnappte … Der Kleine begriff doch gar nicht, wie ihm geschah.
»Hallo!«, rief Jutta nach hinten in den Laden und stemmte sich ächzend in die Höhe. »Der kleine Junge ist rausgelaufen.« Ihm hinterherzurennen, wenn er aus ihrem Blickfeld verschwinden sollte, dazu fehlte ihr die Kondition. Sie schob den aufgefüllten Kasten mit einem Fuß unter das Regal, sammelte die leeren Kartons auf, brachte sie zu den Sammelbehältern für Papier und Batterien vor der Glasfront und spähte nach draußen. Die Blonde kam eilig in den Eingangsbereich, was die Tür erneut in Bewegung setzte, und rief ihrerseits: »Max, was machst du da? Komm sofort her!« Der Junge kam auf der Stelle wieder herein − mit einem Lolly in der Backe. Draußen geriet eine ältere Frau in Juttas Blickfeld, die sich zuvor offenbar mit dem Kerlchen unterhalten hatte. Jutta kannte die Frau vom Sehen, wusste allerdings nicht, wie sie hieß. Manchmal kam sie rein für ein Stück Seife oder einen Tee. Immer war sie freundlich, beinahe devot. Früher war sie nur ein- oder zweimal pro Woche aufgetaucht. Seit letztem Sommer geisterte sie beinahe täglich in der Stadt herum und konnte an keinem Kleinkind vorbeigehen, ohne es anzuquatschen und ihm einen Lolly zu schenken. Jutta hatte es schon mehr als ein Mal beobachtet. Im Sommer hatte die Frau wadenlange, sackartige Kleider getragen, manchmal eine Strickjacke drüber. Die Sachen mochten ihr früher mal gepasst haben, nun schlotterten sie um den dürren Körper herum wie ein altes Jackett um eine Vogelscheuche. Seit dem Herbst trug sie statt der Strickjacke einen zeltartigen, verschlissenen schwarzen Poncho mit Kapuze, in dem sie von hinten aussah wie Batman. Ein auffälliges Kleidungsstück. Die gesamte Rückenpartie war bestickt, die Stickerei auch noch mehrfach mit verschiedenfarbigen Garnen ausgebessert. Ursprünglich mochte es mal ein weißer Adler mit ausgebreiteten Schwingen gewesen sein.
Mittlerweile sah der Vogel aus wie ein halb gerupfter Geier auf der Flucht, weshalb Jutta die Frau still für sich Geierwally nannte. Die Schultern hielt sie nach vorne gezogen, den Kopf gebeugt, als fürchte sie, die Kapuze könne runterrutschen. Wie immer hatte sie eine altmodische Einkaufstasche dabei, obwohl man das in den meisten Läden nicht gerne sah. Aber bei dieser Frau wäre Jutta nie auf die Idee gekommen, eine Taschenkontrolle vornehmen zu wollen. Geierwally roch förmlich nach Ehrlichkeit. Irgendwer hatte sie mal als bedauernswertes Geschöpf bezeichnet und behauptet, sie habe wahnsinnig viel Pech gehabt im Leben, sei nicht mehr ganz richtig im Kopf, aber völlig harmlos, und mit Kindern könne sie wirklich gut. Jutta erinnerte sich nicht, wer das gesagt hatte, vermutlich jemand, der Geierwally näher kannte. Nachgefragt hatte sie nicht. Pech hatte sie selbst schon genug gehabt, da musste sie sich nicht auch noch mit dem Elend anderer Leute beschäftigen. Geierwally schaute dem kleinen Max hinterher. Als sie Jutta bemerkte, lächelte sie scheu. Jutta lächelte freundlich zurück. Ein paar Sekunden lang standen sie sich Auge in Auge gegenüber, nur durch die Glasscheibe getrennt. Dann ging Jutta zu ihrer Kasse hinüber, sah aber noch, dass die Frau im Poncho sich nach links zum Durchgang wandte wie der Typ, der sich über Ilonka lustig gemacht und den kleinen Max beinahe umgerannt hatte. Max wurde währenddessen von seiner Mutter bei einem Arm gepackt und geschüttelt. Sie hatte ihm den Lolly aus dem Mund gezogen und fuchtelte damit vor seinem Gesicht herum. »Was hatte ich dir gesagt?«, legte sie los. »Nichts anfassen! Wo hast du das her?« Ihre Augen huschten hinüber zu den Süßigkeiten, wohl um festzustellen, ob er den Lolly dort weggenommen hatte.
»Von ein liebe Oma«, antwortete der Kleine eingeschüchtert. Daraufhin wurde die Blonde regelrecht hysterisch: »Welche Oma denn? Oma Esther ist verreist. Und Oma Gabi ist eine Hexe. Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass wir sie nicht mehr mögen und nichts mit ihr zu tun haben …« Familie, dachte Jutta und ließ sich schnaufend auf dem Stuhl in der Kassenbox nieder, kann schlimmer sein als die Pest. »Das war keine von seinen Großmüttern«, unterbrach sie die Tirade. »Das war eine ältere Frau, die wir hier öfter sehen. Sie ist ein bisschen wirr im Kopf, aber vollkommen harmlos. Die tut keiner Menschenseele was, schenkt kleinen Kindern nur Traubenzuckerlollys.« »Er soll von Fremden nichts annehmen«, rechtfertigte die Blonde ihr Gezeter, gab Max den Lolly zurück, schob ihn vor die Bilderbücher, trug ihm auf, lieb zu sein, und versprach: »Gleich kaufe ich dir ein Buch. Süßes hast du jetzt genug.« Damit ging sie wieder zur Kosmetik, blieb diesmal aber schon beim ersten Regal mit Nagellacken und Entferner stehen. Nun alberten nämlich die beiden Teenies mit den Lippenstiften herum, malten sich gegenseitig die Münder an, wischten die Schmiere wieder ab und probierten eine andere Farbe. Jutta schüttelte es beim Zusehen, Blondie vermutlich auch. So was testete man doch auf dem Handrücken. Wer wusste denn, wer sich damit vorher schon alles angemalt hatte? Max schaute sich eine knappe Minute lang die Bilderbücher an, ohne eins anzufassen. Dann zog es ihn erneut zum Eingang. Tür auf. Tür zu. Tür auf, zwei Schrittchen ins Freie, Blick zur Sparkasse. Wahrscheinlich hielt er Ausschau nach der lieben Oma mit den Lollys.
Jutta konnte ihn nicht im Auge behalten, die beiden Alten mit den Grablichtern schoben ihren Wagen neben das Laufband, begannen mit vereinten Kräften auszuräumen und zu sortieren, wer was bezahlen musste. Während Jutta die erste Portion am Scanner vorbeiführte, erregte draußen etwas die Aufmerksamkeit des Jungen. »Mama, guck!«, rief er und kam hereingewetzt, als hätte ihn etwas oder jemand erschreckt. »Zum Donnerwetter, Max!« Die Blonde kam wieder nach vorne gehetzt. »Du sollst doch nicht …« Sie erreichte den Kleinen, packte ihn mit einem Arm um die Taille, hob ihn hoch und nahm ihn mit nach hinten, wo sie sich am Essence-Regal noch minutenlang mit Lippenstiften beschäftigte, ohne einen in den Korb zu legen. Jutta blieb an der Kasse sitzen. Die Teenies waren zu den Düften weitergezogen, außer Sichtweite von Ilonka. Geheuer waren ihr die beiden auch nicht. Ein paar Minuten später kam ein älteres Ehepaar herein, ebenfalls Stammkunden wie die Frauen mit den Grablichtern. Kunze hieß das Paar, kam gerne mittags, weil dann oft Zeit für ein Schwätzchen war. Als die Blonde sich schließlich mit den beiden Gläschen und einem Pixi-Buch zur Kasse bequemte, war Jutta überzeugt, dass sie einen Lippenstift eingesteckt hatte. Eine Tasche hatte sie nicht dabei, ließ sich eine Tüte geben. Aber am Jäckchen und der Jeans gab es Taschen, darin hatte sie auch ihr Handy verstaut. Ein Schlüsselband war am Gürtel der Jeans befestigt. Jutta kassierte ab und schaute ihr nach, weil sie erwartete, dass der Alarm ausgelöst wurde, als die Frau sich mit der Tüte in der einen und Max an der anderen Hand der Warensicherungsanlage näherte. Die Tür glitt auf, sie passierte die Anlage, nichts geschah. Die Frau wandte sich nach links und schrie im nächsten Moment: »Luca! Hilfe! Luca!« Mit Max im Schlepptau kam sie zurück in den Laden gehetzt und fauchte Jutta an: »Jemand hat mein Baby genommen! Glotzen Sie nicht so, rufen Sie sofort die Polizei. Mein Baby ist weg!« Noch Stunden später wusste Jutta Meuser genau, welcher Gedanke ihr in dem Augenblick durch den Kopf gezuckt war. Blöde Kuh, hast doch selber ein Handy.